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Ein Spaziergang ist nicht mehr sicher, auch im Bus fühlt es sich unsicher an: So haben Betroffene verbale sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit erlebt.  

Eine multimediale Story von Smilla Dahlbeck, Frauke Schöne, Vivienne Chidera Nwankwo und Sabrina Ranaldi

Verbale sexuelle Belästigung: Viele Frauen verschiedenster Altersgruppen werden tagtäglich damit konfrontiert. Für sie ist oft schon ein Erlebnis sehr belastend und kann langfristige Schäden auslösen. Bekannt ist das Phänomen unter dem nicht unumstrittenen Begriff Catcalling. Wir haben mit Betroffenen gesprochen und gehen der Frage auf den Grund, wieso immer noch nichts passiert.

Was ist Catcalling?

Catcalling bezeichnet die im öffentlichen Raum stattfindende verbale sexuelle Belästigung, wie etwa Hinterherpfeifen oder übergriffige Aufforderungen im sexuellen Kontext. 

Wie genau der Begriff Catcalling entstanden ist, ist unklar. Vermutlich stammt er aber aus der englischen Umgangssprache. Übersetzt bedeutet er „Katzenrufen“, es werden also das Verhalten und die Äußerungen, die beim Catcalling gemacht werden, mit dem Heranlocken von Katzen verglichen.

Wo findet Catcalling statt?

Catcalling kann eigentlich überall stattfinden, wo Menschen sich begegnen. Häufig werden Plätze gewählt, an denen viele Menschen unterwegs sind, wie zum Beispiel ein Bahnhof, eine Bushaltestelle oder ein Marktplatz. Aufgrund der Anonymität fühlen Täter sich sicher.

Wie sieht Catcalling aus?

Catcalling hat viele Gesichter. Die Frage danach, wie genau Catcalling aussieht, lässt sich nicht so schnell beantworten und die Übergänge zu anderen Formen der Belästigung oder Übergriffigkeit sind fließend. Betroffene schildern ihre Eindrücke.

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Lea: „Ich hatte einfach nur Angst.“
„Ich bin mit dem Fahrrad eine große Straße heruntergefahren, als ich dann gesehen habe, dass mich vier Männer von einem Auto aus beobachten. Sie sind mir dann hinterhergefahren. Ich glaube, es hat ihnen Spaß gemacht. Ich hatte einfach nur Angst.“
Michelle: „Mir ist der Tag unangenehm in Erinnerung geblieben.“
„Meine Freundinnen und ich wollten in der Innenstadt spazieren gehen. Auf einmal hörten wir, wie ein Mann mit der Zunge schnalzte, als wären wir Katzen. Wir wiesen ihn ab. ‚Geiler Arsch!‘, rief der Fremde uns zu. Eine meiner Freundinnen rief zurück, er sagte dann zwar nichts mehr, aber mir ist der Tag unangenehm in Erinnerung geblieben.“
Anne und Stefanie: „Wir haben uns wie Objekte gefühlt.“
„Wir waren zu zweit in der Innenstadt unterwegs, als eine Gruppe Männer obszöne Tiergeräusche machte, als sie an uns vorbeigelaufen ist. Sie haben Affen und Schweine imitiert. Wir haben uns wie Objekte gefühlt.“

Sichtbarkeit schaffen

Verbale sexuelle Belästigungen öffentlich sichtbar machen: Das haben sich die Initiativen der „Catcalls of“-Bewegung zum Ziel gemacht. Die Bewegungen werden ehrenamtlich betreut und sind aus der New Yorker „Chalk-Back“-Bewegung entstanden.

Die Hauptaufgabe der jungen Aktivist:innen besteht darin, die Belästigungen oder auch Übergriffe zu sammeln und mit Kreide auf die Straße zu schreiben, genau dort, wo sie passiert sind. Ein Foto davon landet dann auf der Instagram-Seite der jeweiligen Initiative. Das sogenannte „Ankreiden“ soll den Betroffenen helfen, den Raum des Geschehens für sich zurückzugewinnen und eine Community von ebenfalls Betroffenen schaffen. Hierbei stehen vor allem das Stärken der Betroffenen und das Schaffen einer öffentlichen Sichtbarkeit des Problems im Vordergrund. Triggerwarnungen sowie die Zensur nicht-kinderfreundlicher Wörter schützen die Öffentlichkeit vor der vollen Härte der Anfeindungen. Ein Service, den die meisten Betroffenen nicht genießen. 

Oft fällt aber auch noch mehr als das „Ankreiden“ in den Aufgabenbereich der Initiativen. Da viele Nachrichten, die die Initiativen erreichen, von Stalking und sexuellen Übergriffen bis hin zur Vergewaltigung handeln, ist enge Zusammenarbeit mit Stellen wie Pro-Familia, Wildwasser oder dem Frauennotruf keine Seltenheit. Viele Ortsgruppen engagieren sich darüber hinaus rund um das Thema der sexuellen Belästigung im öffentlichen Raum. So zum Beispiel die Ortsgruppe „Catcalls of Mainz“, welche sich auch mit Politiker:innen trifft und an Schulen geht, um auf das Thema aufmerksam zu machen. Die Ortsgruppe entstand pünktlich zum Weltfrauentag 2020 auf dem Feministischen Kollektiv Mainz und setzt sich momentan aus 15 Ehrenamtlichen zusammen. 

Die Initiativen in der Region

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Zur Statistik: Mehr als eine Ausnahme

Ein Mann 00:30 am Mainzer Bahnhof: „Ey Süße, komm mal her, bleib mal stehen!“ Der Abend wird zum Alptraum, die Bahn kommt nicht früh genug. Das Argument vieler Täter, dass Catcalling bloß ein Kompliment sei, verharmlost den Ernst der Lage. Bei einer Umfrage (vom Autorenteam selbst durchgeführt und nicht repräsentativ) von 47 Teilnehmer:innen schneidet Catcalling als Kompliment mit 1,5 Punkten eher miserabel ab und zeigt deutlich, dass die meisten Betroffenen eher angewidert sind. Die Mehrheit der Opfer verspürt während dieser Form von sexuellen Belästigung Angst und empfindet die Situation als unangenehm. Auf einer Skala von 1 bis 5, wie unangenehm Betroffene Catcalling einstufen, zeigt das Ergebnis 4.2 klar: Komplimente sind das nicht – selbst wenn es anders beabsichtigt sein sollte in dem einen oder anderen Fall.

Zudem ist es erschreckend, dass die meisten Betroffenen zwischen 12 und 16 Jahren zum ersten Mal Opfer von verbalen Angriffen werden. Minderjährig und überwiegend junge Frauen. Wörter wie „Straßenseite“, „Männer“ und „Pfeifen“ sind bei 90 Prozent der anonymen Umfrage aufgetaucht. Man erkennt ein Muster. 

Die Gesetzeslage

Wenn es darum geht, einen Catcall anzuzeigen, gestaltet sich dies oft schwieriger als gedacht. Laut aktueller deutscher Rechtssprechung (2020, Aktenzeichen WD7-3000-115/20) wird dieser nicht als sexuelle Belästigung gewertet, wenn das Opfer vom Täter nicht zusätzlich zu der unangenehmen Bemerkung in sexueller Weise berührt wurde. So erfüllt ein Catcall höchstens den Tatbestand der Beleidigung. Doch auch hier stellen sich dem Opfer einige Hürden in den Weg. Allem voran muss ein Angriff auf die Ehre des Opfers erfolgt sein. Hier wird unterschieden zwischen der Personenwürde und der Ehre des Opfers. Eine sexuell motivierte Äußerung, auch wenn sie anstößig ist, sei hierbei nicht ausreichend. Hatte der Täter keinen Grund zur Annahme, dass das Opfer sexuellen Kontakt wünscht, sei das auch nicht ausreichend, um den Tatbestand der Beleidigung zu erfüllen.

Das Schamgefühl, das viele Betroffene in so einer Situation verspüren, sei strafrechtlich nicht relevant. Vielmehr müssten weitere Umstände erfüllt sein. Ein Beispiel hierfür wäre etwa das Anbieten von Geld, denn eine Bezichtigung der Prostitution sei eine Ehrverletzung. Außerdem müsse eine Beleidigung auf einen nicht vorhandenen Mangel hinweisen und von Täter vorsätzlich als Beleidigung sein. Dass ein nicht unwesentlicher Teil der Catcaller angibt, ihre Belästigungen seien „als Kompliment gemeint“, ist hierbei sicherlich nicht hilfreich. Jedoch bleibt zu sagen, dass die Gerichte immer nur über Einzelfälle rechtskräftig entscheiden. Eine Orientierung an der Rechtssprechung sei hierbei aber allgemein üblich.

Wo gibt es Hilfe?

Wer selbst von sexueller Belästigung oder sexueller Gewalt betroffen ist, findet bei verschiedenen regionalen und überregionalen Hilfeangeboten Rat. Eine Option ist das Heimwegtelefon, mit welchem man sich nachts per Anruf begleiten lassen kann, wenn man sich unsicher fühlt. Aber auch Beratungsstellen wie ProFamilia können hilfreich sein, wenn es darum geht, mit negativen Erfahrungen umzugehen.


Dieses Projekt wurde von Studierenden als Abschluss der Lehrveranstaltung „Journalismus als Beruf“  im Bachelor-Studiengang Publizistik konzipiert, recherchiert und produziert. Für diese Lehrveranstaltung kooperieren die VRM und das Institut für Publizistik der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz.

Fotos: Alexander Palme