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Plötzlich ist das eigene Kind weg. Für die Angehörigen ein Albtraum.
Der Fall der getöteten Susanna. 14 Jahre alt.
Ihr Tod wühlt Deutschland auf.
Das Verbrechen wird zu einer weiteren gesellschaftlichen Zerreißprobe. Und zum Politikum.
Weil der Täter auch in diesem Fall ein junger Flüchtling ist.
Bekannt wird er als Ali Bashar, ein abgelehnter Asylbewerber aus dem Irak.

„Dieser Schmerz ist unerträglich, den kann man mit Worten nicht beschreiben… das fühlt sich so an, als würde man einem ohne jegliche Betäubung ein Stück vom Herzen rausreißen, man möchte laut schreien aber der Kloß im Hals lässt es nicht zu….das einzige was bleibt, ist zu weinen und sich an die schönen Momente zu erinnern, die es nie wieder geben wird….
Du fehlst uns total mein Mädchen…ich vermisse dich so sehr…in ewiger Liebe deine Mama….“

Zitiert aus einem Beitrag der Mutter auf www.gedenkseiten.de vom 4. Dezember 2018

Die Chronologie

Tag 1 – Dienstag 22. Mai 2018

Alles wie immer

Es ist der Tag nach Pfingsten. Gegen 14 Uhr verlässt die Schülerin Susanna in Mainz die Wohnung ihrer Mutter im Brahmsweg, im Stadtteil Lerchenberg. Sie will nach Wiesbaden. Zu ihrer Clique. Seit März 2018 dreht sich fast alles um diese Clique. Es ist vereinbart, dass Susanna um 22 Uhr wieder zu Hause sein wird. Am Vormittag waren sie und ihre Mutter noch kurz shoppen, Susanna hat sich ein paar neue Oberteile gekauft. Mutter und Tochter waren dann noch im Kindergarten, um Susannas kleine Schwester abzuholen. Als Susanna die Wohnung verlässt, trägt die 14-Jährige ein weißes Top, schwarze Strickjacke. Dazu dunkle Jeans. Und ihre AirMax 97s. Ihre Schuhe.

Seit März 2018 hat die Achtklässlerin der Integrierten Gesamtschule in Mainz-Bretzenheim häufig die Schule geschwänzt. Um auf der anderen Rheinseite in Wiesbaden bei ihrer Clique zu sein. Bei ihren Freundinnen, die sie dort kennengelernt hat. Und den Jungs, den jungen Flüchtlingen. Am 22. Mai 2018 wird die Mutter ihre Tochter das letzte Mal lebend sehen.

Foto: dpa, Polizei

Die Schauplätze des Tattages

Die Stunden vor dem Verbrechen

Susanna kommt mit dem Bus der Linie 6 nach Wiesbaden. Sie steigt an der Haltestelle Schwalbacher Straße aus. Um 14.56 Uhr schreibt sie einer Freundin – „komm mal Stadt“. Sie sei mit einigen anderen aus der Clique unterwegs.

Es ist eine andere Welt. Seit März 2018 existiert für Susanna eine Parallelwelt – ihre Clique in Wiesbaden.

Zu den Hintergrundinformationen klicken Sie auf das Bild.
Foto: Lukas Görlach

Die Teenager-Clique

Seit März 2018 existiert für Susanna eine Parallelwelt – ihre Clique in Wiesbaden. Es ist ihre Flucht aus dem Alltag. Weg vom Stress in der Schule, vom Druck, von den Diskussionen zu Hause. Die Clique steht für Abenteuer. Für zielloses Abhängen in der Stadt. Für Aufmerksamkeit. Für Anerkennung. Für Bestätigung. Das verbindet Susanna mit den anderen Mädchen. Sie sind zwischen elf und 15 Jahre alt. Viele haben einen Migrationshintergrund. Von den jungen Mädchen gehen einige in den Gemeinschaftsunterkünften für Flüchtlinge ein und aus.
Susannas Weg in diese Clique führt über das Schulschwänzen. Anfang März schwänzt sie zusammen mit einer Freundin erstmals die Schule in Mainz-Bretzenheim. Sie fahren nach Wiesbaden. Und lernen hier bei McDonalds junge Flüchtlinge kennen. Auch die hängen ab. Auch sie haben viel Zeit. Und diese Jungs kommen so „cool“ rüber. Es finden Kinder und Jugendliche zueinander, die sich ansonsten schon als Außenseiter gefühlt haben dürften. Das ist etwas Verbindendes.
Für einen der jungen Flüchtlinge wird Susanna bald schwärmen. Alle kennen ihn als „Keysi“, das ist sein Spitzname. Tatsächlich heißt er Haji. Er ist 13, der Jüngste seiner Familie, die 2015 aus dem Irak gekommen ist. Sie leben in einer Flüchtlingsunterkunft im Kreuzberger Ring 38 im Wiesbadener Stadtteil Erbenheim.
Susannas Schwärmerei bleibt einseitig – „Keysi“ hat in der Clique eine andere Freundin. Eine Zwölfjährige. Je mehr sich Susanna in der Clique aufgenommen fühlt, umso mehr verändert sich ihr Verhalten. Sie ritzt sich auch den Arm. Wegen „Keysi“?

Später, am 3. Juni, wird Susannas Mutter bei Facebook posten: „Seit sie vor ca. drei Monaten diese Clique in Wiesbaden kennengelernt hat, ist sie wie ausgewechselt. Ganz anders als früher.“

Die Schule, und alles was damit zusammenhängt, wird Susanna zunehmend unwichtiger. Ab Ende März wird die 14-Jährige immer seltener in der Schule gesehen. Die Clique wirkt anziehend. Die jungen Flüchtlinge wirken anziehend auf die pubertierenden Mädchen, die fühlen sich beachtet. Umschwärmt. Hofiert. Da gibt es Frühreife, da gibt es aber auch Mädchen wie Susanna, die sexuell unerfahren sind.

Für die Flüchtlinge, aufgewachsen mit anderen Frauenbildern und groß geworden mit einem anderen Verständnis der Geschlechterrollen, sind die Mädchen überaus anziehend. Viele laufen freizügig herum, sie sind distanzlos. Sie lassen sich, spielerisch wird es ausgetestet, anfassen. Und auch mehr. Alles so ganz anders als zu Hause in der Heimat und in der Familie der Flüchtlinge.
Dort geht es rigide zu. „Ordentliche“ Mädchen laufen nicht so herum. „Ordentliche“ Mädchen halten Distanz. „Ordentliche“ Mädchen lassen sich nicht anfassen. „Ordentliche“ Mädchen ziehen auch nicht einfach so herum, und schon gar nicht spätabends oder gar nachts.

Wer sich so benehme, gilt als „Schlampe“. Für einige der Flüchtlinge legitimiert das ein abwertendes und sexuell übergriffiges Verhalten. Mit „Schlampen“ darf man machen, was man will. So denkt auch der Mann, der später Susannas Mörder wird. Von ihm wird später überliefert werden, dass er die ganz jungen Mädchen besonders „mag“. Die Jungfrauen.

„Schlampen“? So denken aber auch andere junge Flüchtlinge aus der Clique, wie sich später zeigen wird. Sie fallen als Vergewaltiger auf. Auch „Keysi“. Mit 13 Jahren.

Man hängt herum. Die üblichen Stationen halt, Mauritiusplatz, Burger King, Kranzplatz, Warmer Damm zum Beispiel.

Fotos: Sascha Kopp

Am frühen Abend sollen Susanna und eine Freundin im Luisenforum aufgetaucht sein. Dort treffen sie auf „Keysi“ und weitere junge Flüchtlinge. Wenig später soll auch Ali, der spätere Täter, mit seiner Freundin gekommen sein. Eigentlich soll Susanna vorgehabt haben, in den Bus zu steigen. Zurück nach Mainz. Wie sie ihrer Mutter versprochen hatte. Susanna lässt sich aber überreden, in Wiesbaden zu bleiben. Eine erste folgenschwere Entscheidung. Denn ab jetzt ist in ihrer Nähe stets Ali dabei, der viel Ältere, bei dem man doch aufpassen müsse. Bei den Mädchen sei darüber geredet worden. Vielleicht mag Susanna gedacht haben – was soll passieren, es sind ja noch andere dabei. Vor allem „Keysi“, Alis jüngster Bruder. Hat sie darauf vertraut, dass „Keysi“ ihr Schutzschild sein könnte?

Am Abend ruft Susanna in Mainz bei der Mutter an und sagt, dass sie es nicht bis 22 Uhr – wie verabredet – nach Hause schaffe. Sie werde sich verspäten. Verspäten, im zeitlichen Rahmen, wäre kein Drama. Dann soll es aber noch einen zweiten Anruf gegeben haben. Sie werde in Wiesbaden bleiben und bei einer Freundin übernachten. Und erst am nächsten Morgen beizeiten nach Hause kommen. Rechtzeitig, weil für den 23. Mai ein gemeinsamer Termin von Mutter und Tochter ansteht. Beim Jugendamt.

Nach und nach verschwinden auch die übrigen Jungs. Von den Mädchen ist irgendwann nur noch Susanna dabei. Warum ist sie geblieben?

Ali Bashar bringt im Laufe des späten Abends seine Freundin heim in die Siedlung Sauerland. Da ist man noch als Gruppe unterwegs. Man hängt in der Siedlung weiter rum, am Spielplatz. Nach und nach verschwinden auch die übrigen Jungs. Von den Mädchen ist irgendwann nur noch Susanna dabei. Warum ist sie geblieben?
Es ist schon später Abend, als sie mit „Keysi“ und Ali nach Erbenheim fährt. Im Bus sitzt auch Ferdi A., ein Bekannter Alis.

Ferdi ist ein Asylbewerber aus der Türkei, er wohnt in der Flüchtlingsunterkunft Berliner Straße 180. Ali soll bei dem Türken eine sturmfreie Bude organisiert haben: „Bist du heute alleine im Zimmer?“ Er, Ali, würde später mit Susanna und einem anderen Mädchen vorbeikommen. Ferdi solle schon mal eine Flasche Wodka besorgen. Was soll das werden? Ferdi, damals immerhin ein Mann von 35 Jahren, empfindet keine Skrupel dabei, dass ein junges Mädchen, fast noch ein Kind, nachts in sein Zimmer gebracht werden soll. Warum hat er nicht gesagt – was soll das? Er kauft statt dessen an einer Tankstelle die Flasche Wodka. Wie gewünscht. Ali wird das später so darstellen, als hätte dieser Ferdi gedrängt, dass Ali bei ihm vorbei komme. Man könne ja zusammen etwas trinken.

Foto: Sascha Kopp

Susanna soll sich mit den Brüdern „Keysi“ und Ali zunächst in der Flüchtlingsunterkunft im Kreuzberger Ring 38 aufgehalten haben. Wo die Familie der irakischen Flüchtlinge vier Zimmer bewohnt. Man habe gegessen. Susanna habe nicht heim nach Mainz gewollt. „Sie ist mit uns gegangen“, wird Ali schildern. Gegen 23 Uhr sollen er, „Keysi“ und Susanna in der Flüchtlingsunterkunft Berliner Straße 180 aufgetaucht sein. Sie wollen zu Ferdi, kommen aber zunächst nicht ins Haus. Es ist ja schon nach 22 Uhr. Keine Besuchszeit mehr. Eigentlich.

Foto: Uwe Stotz

Die Nacht zum Mittwoch, 23. Mai 2018

Ausgeliefert

Eine der Freundinnen, ein Kind, schreibt gegen 1 Uhr, dass Susanna doch heimfahren solle. Heimfahren? Leichter gesagt als getan. Diese Antwort ist keine Hilfe. Kann man einer Zwölfjährigen deswegen wirklich Vorwürfe machen? Mit dem Bus hätte Susanna um diese Uhrzeit aus Erbenheim nicht weg gekonnt. Die nächstgelegene Haltestelle zur Flüchtlingsunterkunft in der Berliner Straße 180, die Haltestelle „Im Hahn“, ist zwar nur ein kurzes Wegstück entfernt. Zwei, drei Minuten. Aber der erste Bus Richtung Mainz fährt erst morgens um 4.29 Uhr. Bis dahin müsste Susanna noch mehrere Stunden warten. Mit Ali, der ihr nicht von der Seite weichen will.

Eine andere Freundin bietet an, dass Susanna bei ihr übernachten könne. In einem anderen Stadtteil. Wie dahin kommen?

Susanna könnte auch ihre Mutter anrufen. Mit einem Hilferuf. Ihr eine Nachricht schicken. Aber dann würde auffliegen, dass sie gelogen und nicht bei einer Freundin übernachtet hat. Was soll sie ihrer Mutter mitten in der Nacht erzählen? Am besten: „Mama, ich hab‘ fürchterliche Angst! Hol‘ mich ab!“ Egal was Susanna gesagt hätte, ihre Mutter in Mainz hätte sicher sofort alle Hebel in Bewegung gesetzt, um ihr Kind da rauszuholen. Die Wiesbadener Polizei hätte schnell da sein können. Hätte. Können.
Später wird auch viel darüber spekuliert, wie die Situation hätte vermieden werden können. Es wird viel von Schuld die Rede sein. Susanna hätte …Die Mutter hätte …

Schuld aber hat nur einer – der Täter.

Später verlassen Ali und Susanna die Flüchtlingsunterkunft in der Berliner Straße 180.
Über den weiteren Ablauf gibt es nur eine Version – die des Täters. Warum Susanna tatsächlich mit ihm weiter gelaufen ist, ist nicht bekannt. Zwang er sie das zu tun, was er wollte? Hatte er vielleicht wieder ein Messer dabei wie damals im April, als ihn die Stadtpolizei erwischt hatte? Oder war Susanna zwar ängstlich, aber doch naiv, mit ihm zu laufen? Hat er vielleicht gesagt, dass man zurückgehen werde zu „Keysi“? Ali wird später sagen, dass er Susanna zum Wiesbadener Hauptbahnhof habe begleiten wollen. Ein langer Fußmarsch. Sie sei angeblich schnell müde geworden und habe nicht mehr weiter laufen wollen. „Meine Füße tun so weh“. Und es soll ihr Vorschlag gewesen sein, dass man sich im Feld die Zeit mit Reden vertreiben könne. An einer Stelle, wo sie früher schon mal lange miteinander stundenlang gequatscht hätten, wie er sagt. Das klingt sehr lebensfern.
Ali muss sich sicher gewesen sein, dass Susanna bald machen würde, was er verlangen und notfalls mit Gewalt erzwingen würde. Wie es früher schon bei einer Elfjährigen der Fall gewesen sein soll. Er will in jener Nacht Sex. So soll er das später auch einem Freund geschildert haben. Was die Mädchen wollen, interessiert ihn nicht. Im April soll der Iraker die Elfjährige in seinem Zimmer in der Flüchtlingsunterkunft Kreuzberger Ring vergewaltigt haben, und dann ein weiteres Mal ein paar Wochen später.

Drei Dinge kommen in der Nacht zum Mittwoch in Erbenheim zusammen, sie machen das Verbrechen möglich:

  • ein tatbereiter Täter, offenbar zu allem entschlossen, um sein sexuelles Bedürfnis zu befriedigen

  • eine günstige Tatgelegenheit und Tatumstände, die der Täter zu seinem Vorteil offensichtlich geplant hat

  • ein begehrtes Tatziel – Susanna –, das der Täter als leichte Beute betrachtet, weil schutzlos.

Das Verbrechen

Für den weiteren Ablauf gibt es Schilderungen des Täters: Eine erste – ungefragt – schon wenige Stunden nach dem Verbrechen. Ali soll seinen Freund Mansoor eingeweiht haben. Dann gibt es viel später die offiziellen Erklärungen nach seiner Festnahme im Nordirak gegenüber der kurdischen Polizei. Dann seine Geständnisse, nachdem er wieder in Deutschland war. Erzählt und gestanden hat er in allen Fällen, Susanna getötet zu haben. Die Vergewaltigung bestreitet er. Das wiederum soll er seinem Freund Mansoor, einem afghanischen Flüchtling, aber geschildert haben. Warum sollte er, der auf junge Mädchen stand, das erfunden haben?

Der Weg von Täter und Opfer führt von der Berliner Straße runter zur Unterführung für Fußgänger und Radfahrer. Es ist die Unterführung der Bundesstraße 455.  Schon dieser Weg ist um diese Uhrzeit alles andere als einladend. Dann geht es hoch zur Bushaltestelle „Im Hahn“ und kurz darauf weiter ins freie Feld. Vom Hellen ins Dunkel. Da ist nachts kein Mensch unterwegs. Da hört man nur das Rauschen von Autos. Läuft da ein junges Mädchen freiwillig hin? Seine Antwort werden wir nie kriegen.

Fotos: Wolfgang Degen

In seiner Version behauptet Ali, dass es im Feld zu angeblich einvernehmlichem Geschlechtsverkehr gekommen sei. Er habe sie gefragt, ob sie das machen würde. „Beim ersten Mal hat sie nein gesagt. Beim zweiten Mal ja“, wird er später behaupten. Das wiederum kann sich niemand vorstellen, der Susanna näher gekannt hat. Das sei völlig ausgeschlossen. Absolut. Seinem Freund Mansoor soll Ali zeitnah gesagt haben, was sich im Feld wirklich abgespielt haben soll. Susanna habe sich nicht anfassen lassen wollen, und schon gar keinen Geschlechtsverkehr haben wollen. Also habe er sie gefügig gemacht und gezwungen. Er habe dem Mädchen mit einem Ast so lange zugesetzt, bis die Schülerin aus Angst schließlich die Vergewaltigung erduldet habe. Die Wiesbadener Staatsanwaltschaft formuliert es in einer Pressemitteilung am 23. Januar 2019 im Zusammenhang mit der Anklageerhebung gegen Ali Bashar so: Mit dem Ast habe er Susanna „entweder am Hals gewürgt oder ins Gesicht geschlagen“.

Laut Mansoor soll der 21-Jährige geprahlt haben, dass er das Mädchen dann lange „ge…..“ habe.

Foto: Wolfgang Degen

Der Täter sagt: Auf dem Rückweg soll Susanna bemerkt haben, dass sie im Gesicht blute. Er erklärt das Blut damit, dass Susanna in ein Gebüsch gefallen sein soll. Darüber hätten sie beide noch gelacht. Das scheint absolut lebensfremd in Anbetracht aller Umstände. Nach Lachen wird Susanna kaum zumute gewesen sein. Nicht nach der Angst, die sie zuvor ihrer Freundin beschrieben haben soll. Und da war die 14-Jährige noch vergleichsweise sicher. Aber hier im Feld? Viel nahe liegender für das Blut ist Gewalt, eine blutende Verletzung durch den Ast.

Ali muss klar geworden sein, dass Susanna kein Opfer sein würde, das schweigend alles hinnimmt.

Die 14-Jährige soll ihm danach mit der Polizei gedroht haben, davon sei sie auch nicht abzubringen gewesen. Ali muss klar geworden sein, dass Susanna, eine Vergewaltigung unterstellt, kein Opfer sein würde, das schweigend alles hinnehmen würde. Ihm muss klar geworden sein, dass er als mutmaßlicher Vergewaltiger festgenommen werden könnte. Und ihm muss klar gewesen sein, dass die Spuren an dem Mädchen und alle Umstände Susannas Version stützen würden. Spuren senden Botschaften. Und die Polizei würde in diesem Zusammenhang schnell ermitteln können, dass er der „Ali“ ist, der zuvor in der Flüchtlingsunterkunft im Kreuzberger Ring schon eine Elfjährige vergewaltigt haben soll. Fügt man das zusammen, dann hat er das Gefängnis vor Augen gehabt. Da muss Ali den Entschluss gefasst haben: Susanna muss schweigen. Und zwar für immer. Ali wird später sagen, dass Susanna wegen der blutenden Wunde aufgebracht gewesen sei und sich nicht mehr habe beruhigen wolle. Sie hätte immer „Polizei, Polizei“ gesagt. „Und dann wurde es vor meinen Augen schwarz“.

Foto: Sascha Kopp

Und Ali scheint auch überlegt zu haben, dass er falsche Fährten legen müsse – weg von sich. Eine erste falsche Fährte soll er schon am späten Abend gelegt haben, mit einem Anruf bei einem Kumpel. Da soll er vorgespiegelt haben, dass er Susanna zuletzt in der Innenstadt gesehen haben will. Welchen Sinn macht das? Wo er doch tatsächlich seit dem Abend nicht von der Seite des Mädchens gewichen sein soll. Ist das in der Vortat-Phase nicht schon ein Zeichen für Planung?

Alles läuft übers Handy. Auch bei Susanna. Da ist die Clique, mit der ständig Nachrichten hin und hergeschickt werden. Da ist die Mutter, mit der Susanna telefoniert oder Nachrichten schickt. Die Mutter und die Clique, Susannas Anlaufstellen, müssen in die Irre geführt werden. Sie würden ja die Ersten sein, die nachhaken – „He, wo bist du? Susanna, wann kommst du? Melde dich.“ Ali greift sich Susannas Handy und er muss auch die PIN oder das Passwort verlangt haben. Wie sollte sich das Mädchen dagegen wehren können? Nachts allein im Feld. Vielleicht hat sie auch gesagt: „Nimm das Handy, aber lass‘ mich jetzt bitte gehen!“

Foto: Sascha Kopp

Kurz darauf ist Susanna tot. Der auf dem Boden sitzenden und ahnungslosen Schülerin legt Ali, wie er selbst später wiederholt erklären wird, von hinten einen Arm um den Hals und drückt zu. Ein kurzes Ablassen. Und dann wieder ein kräftiges Zudrücken, so wird es später im Prozess beim Verlesen der Anklage heißen. Susannas Sterben dauert mehrere Minuten. Knapp fünf Wochen später wird Ali Bashar bei einer Tatrekonstruktion im Feld an einer Puppe demonstrieren, wie er die Schülerin getötet hatte. So fest und lange zugedrückt, bis sie sich nicht mehr bewegt habe. Er will sich sogar überzeugt haben, dass sie auch wirklich tot ist. Und bei Susanna den Puls gefühlt haben. Zur Sicherheit gleich zweimal.

Die Leiche will er unweit der Bahnlinie in einem von ihm ausgescharrten Erdloch vergraben haben. Alleine. Die Staatsanwaltschaft dagegen geht davon aus, dass Ali Bashar „mit Hilfe zumindest einer weiteren unbekannten Person ein ca. 35 cm tiefes, 1 Meter breites und ca. 1,80 langes Erdloch ausgehoben“ habe. Wer könnte diese weitere unbekannte Person gewesen sein? Wen könnte er schnell herbeiholen in der Gewissheit, dass dieser Helfer schweigen wird?

Es gibt noch mehr Fragen: Wie will Ali im Dunkel der Nacht das Erdloch gegraben haben? Geht das bei einem naturbelassenen Boden ohne Werkzeug überhaupt so einfach? Und so schnell? Und weiter: Wann wurde Susannas Leiche vom Tatort zum späteren Fundort geschleppt und verscharrt? Zeitnah zu dem Mord? Oder erst  Stunden später? Wie lange hat die Leiche auf dem Feld gelegen? Wie wurde sie dann transportiert? Über die Bahngleise geschleppt?

Grafik: teploleta – stock.adobe

Tag 2 – Mittwoch, 23. Mai 2018

Die falschen Fährten

In Wiesbaden
Am frühen Morgen, um 6.34 Uhr, werden auf Susannas Handy die WhatsApp-Einstellungen geändert. Auf ihrem Profil steht jetzt zu lesen: „Tschüss Wiesbaden jetzt nach Paris mit meine Herz armandu“, dazu vier Smileys mit Herzaugen.
Armandu? Paris? Eine Freundin Susannas schreibt zurück: „Ich Check nix“.
8.10 Uhr kommt als Antwort: „Ehy“.

In Mainz
Um 8.45 Uhr erhält Susannas Mutter vom Handy ihrer Tochter eine Nachricht.
In schlechtem Deutsch steht geschrieben: „ich bin gerade mit meine Freund der heißt Armandu“.
Um 8.48 Uhr ist Susannas Handy letztmals online und für die Mutter erreichbar. Die Mutter ist alarmiert. Wer ist Armandu? Sie ist aber nicht so alarmiert, dass sie sofort die Polizei einschaltet. Auch jetzt noch nicht.

Foto: kavzov – stock.adobe

Die ersten Mitwisser

Ali soll am nächsten Morgen lange geschlafen haben. Er hat außer Essen und Abhängen ja nichts zu erledigen. Einer Arbeit geht er nicht nach. Bereits wenige Stunden nach dem Verbrechen will er seiner Freundin erzählt haben, dass er etwas „Schlimmes“ gemacht habe. Dass er getötet habe. Die Freundin hätte ihn ausgelacht. Er habe dann einem „arabischen“ Freund davon erzählt, der ihm geraten habe, seine Kleidung auf mögliche belastende Spuren hin zu untersuchen und mögliche Spuren zu vernichten. Ganz sicher soll er dann in der Stadt seinem Freund Mansoor von dem Verbrechen erzählt haben. Als wären Vergewaltigung und Mord eine ganz normale Geschichte. „Ey bra – Bruder – , wie geht’s? Hör‘ mal, was ich heut‘ Nacht gemacht habe.“
Mansoor ist ein junger Flüchtling aus Afghanistan, angeblich 13 Jahre alt. Mit 13 ist man in Deutschland strafunmündig. 13? Später werden Rechtsmediziner nach einer Untersuchung zu der Einschätzung kommen, dass dieser Mansoor älter sein muss. Mindestens 14 Jahre und neun Monate. Vielleicht aber auch älter. Mansoor wohnt in Erbenheim in der Flüchtlingsunterkunft in der Berliner Straße 180.
Ali soll ihm schon am Mittag erzählt haben, dass er in der Nacht eine „Schlampe“ vergewaltigt und getötet habe. Susanna habe keinen Sex mit ihm haben wollen. Er habe sie dann aber dazu gezwungen. Getötet habe er, weil Susanna gesagt haben soll, dass sie zur Polizei gehen und ihn anzeigen werde.
Ali und sein Freund sollen sich, wenn man diesem Mansoor Glauben schenkt, auch noch darüber unterhalten haben, was mit Susannas Leiche weiter passieren solle. Ob man sie vergraben, verbrennen oder zerstückeln solle.

Susanna ist tot, ermordet und zuvor vergewaltigt. Und was macht Mansoor mit dieser Info? Zur Polizei rennt er nicht. Er erzählt das Schreckliche einfach weiter. Auch Freundinnen von ihm. Das Verbrechen ist eine unfassbare Tat. Und um dieses Verbrechen herum geschehen Dinge, die man nicht verstehen kann. Diese Erzählungen und das Schweigen gehören dazu.

Die Vermisstenmeldung

In Mainz
Das lange Warten der Mutter hat nichts gebracht. Susanna ist weder aufgetaucht, noch hat sie sich persönlich gemeldet. Die Ungewissheit kann schier verrückt machen. Aber warum wartet die Mutter so lange? Will sie die Polizei zunächst mal außen vor lassen, um die seit Wochen bestehenden Schwierigkeiten mit der Tochter durch eine öffentliche Fahndung nach Susanna nicht zu belasten? Will sie Vertrauen in ihr Kind zeigen, in dem sie mit dem Gang zur Polizei noch abwartet? Andererseits weiß sie ja darüber nichts Konkretes, wer diese Freunde in Wiesbaden sind. Rund 20 Kilometer von daheim weg.

Foto: Sascha Kopp

Die Mutter meldet Susanna am späten Abend, gegen 22 Uhr, im Polizeipräsidium Mainz am Valenciaplatz als vermisst. Seit dem Weggehen von Susanna aus dem Haus sind nun bereits knapp 32 Stunden vergangen. 32 Stunden. Die Mutter spricht mit Beamten des Kriminaldauerdienstes. Man sei bei der Vermissten-Meldung nach einem standardisierten Maßnahmenkatalog vorgegangen, wie man ihn bei Fällen vermisster Kinder und Jugendlicher heranzieht, wird die Mainzer Polizei später erklären. Per Funk seien regionale und überregionale Fahndungen gestartet worden. Das Mädchen wird in ein bundesweites Fahndungssystem eingetragen. Zudem seien Krankenhäuser abgefragt worden. Susanna sei vor dem 23. Mai nie bei der Mainzer Polizei als vermisst gemeldet worden, erklärt die Polizei. Man habe an diesem Tag erstmals davon erfahren, dass das Mädchen mehrfach ihrem Zuhause und der Schule ferngeblieben war. Die Polizei erfährt, dass Susanna, obwohl sie in Mainz lebt und zur Schule geht, ihren Freizeit-Mittelpunkt, insbesondere ihren Freundeskreis, in Wiesbaden hat.

In einer Clique junger Mädchen und junger Flüchtlinge. In einen der Flüchtlinge sei Susanna verliebt gewesen. Es sei aber eine unerwiderte Schwärmerei gewesen. Er hätte eine andere Freundin.

In Wiesbaden
Auch auf hessischer Seite gibt es eine Funkfahndung.

Umgang mit Vermisstenmeldungen

Foto: dpa

Die Polizei leitet eine Vermissten-Fahndung ein, wenn

  • eine Person ihren gewohnten Lebenskreis verlassen hat,
  • ihr derzeitiger Aufenthalt unbekannt ist und
  • eine Gefahr für Leib oder Leben (z. B. Opfer einer Straftat, Unfall, Hilflosigkeit, Selbsttötungsabsicht) angenommen werden kann.

Personen im Alter von bis zu 18 Jahren (Minderjährige) dürfen ihren Aufenthaltsort nicht selbst bestimmen. Bei ihnen wird grundsätzlich von einer Gefahr für Leib oder Leben ausgegangen. Sie gelten für die Polizei bereits als vermisst, wenn sie ihren gewohnten Lebenskreis verlassen haben und ihr Aufenthalt nicht bekannt ist.

2018 wurden in Wiesbaden nach Angaben der Polizei 241 Vermisstenfälle von Kindern/ Jugendlichen gemeldet. Die statistische Auswertung ergab für diese Vermisstenfälle eine durchschnittliche Abwesenheit von etwa 70 Stunden. Einer der jungen Vermissten war 168 Tage abgängig.

Im Jahr 2018 wurden insgesamt 1017 Minderjährige aus der Stadt Mainz, der Verbandsgemeinde Nieder-Olm sowie aus Budenheim bei der Mainzer Polizei als vermisst gemeldet; darunter 75 Kinder bis 14 Jahre. Im Jahr 2017 wurden der Polizei 697 Minderjährige als vermisst gemeldet; darunter 63 Kinder.

Die vergleichsweise große Anzahl der Fälle sei insbesondere auch auf die große Menge an Jugendhilfeeinrichtungen in Mainz zurückzuführen, erklärt Rinaldo Roberto, Sprecher des Polizeipräsidiums Mainz. Vor einiger Zeit sei in diesem Bereich zudem ein einheitliches Vorgehen bei der Meldung von Vermissten eingeführt worden. Tauchen Minderjährige ohne vorherige Absprache nicht bis 24 Uhr in der jeweiligen Jugendhilfeeinrichtung auf, wird die Person laut Roberto in der Regel umgehend bei der Polizei als vermisst gemeldet. Jeder Fall wird in die Statistik aufgenommen, obwohl der Großteil bereits am nächsten Tag oder noch in der Nacht auftaucht. Die durchschnittliche Abwesenheit der als vermisst gemeldeten Minderjährigen wird laut Roberto bei der Mainzer Polizei nicht erfasst.

Tag 3 – Donnerstag, 24. Mai 2018

Der erste Hilferuf der Mutter

Dieser Hilferuf auf Facebook wird rund 13 000 Mal kommentiert und rund 100 000 Mal geteilt. Viele Tausend Menschen bangen mit der Mutter.
Über eine Schulfreundin Susannas in Mainz erhält die Mutter erste vage Hinweise, die zu den jungen Flüchtlingen aus der Clique in Wiesbaden führen. Sie könnten wissen, mit wem Susanna am Dienstag unterwegs war. Wer war alles dabei? Bis wann? Bis wo? Und wie ging es dann weiter? Viele Puzzleteile, die ein Ganzes hätten ergeben können. Genannt wird Vages. Eine Flüchtlingsunterkunft in Erbenheim. Ein Name fällt – ein „Hatchi/Keysi“. Doch wie heißt diese Person mit richtigem Namen? Was könnte sie wissen? Vor allem: Wo steckt Susanna?

Weitere Mitwisser

Alis Freund Mansoor soll sehr mitteilungsfreudig gewesen sein. Er soll weiter erzählt haben, dass Ali vergewaltigt und dann getötet habe. Er soll Details des Tötens und des Umgangs mit der Leiche geschildert haben. Mansoor hat – so wird es offenbar empfunden – „Spannendes“ zu erzählen. Hat ihn das nicht belastet? Erst viel später wird sich herausstellen, dass dieser Mansoor zu diesem Zeitpunkt mit Ali ein weiteres Geheimnis geteilt haben soll – ein Verbrechen, an dem sie beide beteiligt gewesen sein sollen: eine Vergewaltigung. Ein elf Jahre altes Mädchen.
Zur Polizei gehen auch die anderen Mitwisser nicht. Warum schweigen sie? Reicht Angst aus, um ihr Schweigen zu erklären? Oder decken sie den in ihren Augen „bösen“ Täter, damit dessen in ihren Augen „lieber“ kleiner Bruder „Keysi“ keine Probleme kriegen solle? Ein Problem wäre, wenn „Keysi“ mit der Familie abgeschoben und Deutschland verlassen müsste. Das müssen manche als etwas wirklich Schlimmes betrachtet haben. Was ist ihnen denn zu Susanna eingefallen, die vergewaltigt, getötet und verscharrt worden sein soll? Alis jüngster Bruder soll da auch schon gewusst haben, was in der Nacht passiert sein soll.

Es gibt viel Gerede, die offizielle Vermisstenanzeige der Mutter sorgt in der Clique und deren Umfeld für Gesprächsstoff. Ali erfährt in der Info-Kette natürlich auch davon. Er soll daraufhin weitere falsche Fährten gelegt haben. Über Susannas Handy. Dort erscheint am Nachmittag als Statusmeldung, dass Susanna in Paris sei. Mit „meine Freund armandu“. Sie werde einige Wochen bleiben oder „niemals“ mehr zurückkommen.

Wieder dieser „armandu“. Wieder er, den niemand kennt. Was steckt dahinter? Wer schreibt das? Das passt alles nicht. Eine Mutter spürt das. Danach ist Susannas Handy ausgeschaltet.

Auf eigene Faust unterwegs

Susannas Mutter sucht in Wiesbaden in der Flüchtlingsunterkunft Berliner Straße 180 nach Hinweisen auf den Verbleib ihres Kindes. Es gibt erstmals einen Hinweis in die Familie von Ali, aber nicht auf ihn direkt. Sondern auf seinen Bruder „Keysi“. Er könnte etwas wissen. Dieser „Keysi“ wohne mit seiner Familie ebenfalls in Erbenheim, aber in der Flüchtlingsunterkunft im Kreuzberger Ring 38.

Foto: Lukas Görlach

Diese Information teilt Susannas Mutter der Polizei in Mainz mit. Eine sehr wichtige Information. Und wie geht man damit um? Ein Mainzer Polizist hakt mit einem Anruf bei der irakischen Familie in Wiesbaden nach. Warum belässt er es in dieser Phase der völligen Ungewissheit bei einem bloßen Anruf? Gibt es in Wiesbaden keine Streifen, die man von Mainz aus um Hilfe bitten kann, um persönlich nachzufragen? Einer der Brüder, ein Jugendlicher, soll dem Polizisten geschildert haben, dass „Keysi“ die vermisste Susanna am Nachmittag des 22. Mai das letzte Mal gesehen haben will. Eine Fehlinformation. „Keysi“ war ja noch in der Nacht mit ihr zusammen. Mit ihr, Ali und dem Türken Ferdi. Hat sein Bruder es nicht besser gewusst, weil man auch ihn belogen hatte? Oder hat er selbst bewusst gelogen, um die Polizei abzuwimmeln? Es ist eine der vielen falschen Fährten. Während Susannas Mutter an der Ungewissheit schier verzweifelt, weil jede erfolglos verstrichene Stunde auf der Suche nach ihrem Kind den Albtraum noch schlimmer werden lässt, als er ohnehin schon ist.

Tag 4 – Freitag, 25. Mai 2018

Die Verzweiflung wächst

Der Täter haut das erste Mal ab

Die vielen Aktivitäten und Nachfragen von Susannas Mutter wegen des jüngsten Sohnes der Familie, „Keysi“, führen immer näher an dessen Bruder Ali. An den Täter. Er wird offenbar nervös. Einer Freundin soll er eine WhatsApp-Nachricht geschrieben haben: „was sol ich machn. Polizei sucht mich über alles“.  Er macht etwas: Mit einer seiner Schwestern soll er dann für ein paar Tage nach Paris gefahren sein. Weg von den Nachforschungen. War das seine Idee? Oder hat ein anderes Familienmitglied „für ihn gedacht“? Eine der Frauen der Familie? Dann hätten auch sie vom Verbrechen gewusst.

Tag 5 – Samstag, 26. Mai 2018

Das Lügen geht weiter

Susannas Mutter sucht immer verzweifelter in Wiesbaden nach ihrer spurlos verschwundenen Tochter. Sie klappert alle ihr bekannten Treffpunkte von Susannas Clique ab. Sie spricht mehrere Mädchen an, die Susanna gekannt und mit ihr auch unterwegs waren. „Wir wissen nichts“, hört die Mutter. Oder: „Frau F., Susanna taucht sicher bald wieder auf!“ Dabei wissen einige seit Tagen, dass ihre Freundin nie mehr lebend auftauchen wird. Andere vermuten zumindest schon zu diesem Zeitpunkt, dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Das Allerschlimmste. Warum schweigen sie? Warum sagen sie nicht, was sie vermuten und was geredet wird? Eine Mutter, die verrückt wird vor Sorge, muss da Ohnmacht verspürt haben.

Tag 6 – Sonntag, 27. Mai 2018

Noch immer kein Lebenszeichen

Die Mutter bangt. Irgendein Lebenszeichen von meinem Kind muss es doch geben. Irgendwer muss doch etwas wissen. Und wenn es nur ein Fitzelchen Information wäre.

Tag 7 – Montag, 28. Mai 2018

Ein schlimmer Verdacht verdichtet sich

Die Polizei führt in drei Flüchtlingsunterkünften, auch im Kreuzberger Ring, Zeugenbefragungen zum Verbleib Susannas durch. Es werden Versuche zur Handy-Ortung unternommen. Zudem gibt es eine Befragung von acht, neun Kontaktpersonen, die üblichen Aufenthaltsorte der Clique werden angefahren – alles bleibt nach Angaben der Polizei ohne Hinweise. Es verdichtet sich immer mehr der Verdacht eines Verbrechens. Aber das spricht niemand aus.

Tag 8 – Dienstag, 29. Mai 2018

Der Besuch am Tatort

Wiesbaden
Eine Woche nach Susannas Verschwinden sollen mehrere Mädchen aus Susannas Clique gewusst haben, dass ein Verbrechen passiert und ihre Freundin tot ist. Und dass Ali der Täter sein soll.

Irgendwie scheint man das Verbrechen, von dem die Rede ist, spannend gefunden zu haben. Denn es  geschieht etwas Unfassbares – eine Besichtigungstour am möglichen Tatort.

Foto: dpa

Einige Mädchen sollen mit dem Afghanen Mansoor in Erbenheim ins Feld gelaufen sein. Zu den Plätzen, an denen Susanna vergewaltigt, getötet und verscharrt worden sein soll. Eines der Mädchen soll mit einem Stock im Boden herumgestochert haben. Nach der Besichtigungstour soll Mansoor gedroht haben: „Kommt ja nicht auf die Idee, irgendetwas zu erzählen. Wer plaudert, dem blüht, was mit Susanna passiert ist.“

Eines der Mädchen fühlt sich gleichwohl der Mutter verpflichtet. Sie müsse unbedingt von Susannas Schicksal erfahren.

Mainz
Am Abend erhält Susannas Mutter einen Anruf.  Eine Woche nach der Tat erfährt sie von einer Freundin ihrer Tochter aus der Clique Schreckliches. „Sie ist tot“, sagt die Freundin. Sie habe eine entsprechende Info gekriegt. Die Leiche liege versteckt an den Bahngleisen in Erbenheim. Dann legt sie auf. Die „Tipp-Geberin“ sei  in der Folge, so stellt es die Wiesbadener Polizei später dar, für die Ermittler  nicht erreichbar gewesen, da sie mit ihrer Mutter einen Kurzurlaub angetreten habe. Kann man so unerreichbar sein?

Susanna tot und verscharrt in Erbenheim – das ist ausschlaggebend dafür, dass der Vorgang komplett von der Mainzer Polizei an die Polizei nach Wiesbaden abgegeben wird.

Kritik an der Mainzer Polizei
Nachdem die Mainzer Polizei den Fall am 30. Mai an die Wiesbadener Kollegen abgibt, gerät sie selbst ins Visier der Öffentlichkeit. Kritik wird laut: Welche Maßnahmen haben die Beamten in den sieben Tagen nach der Vermisstenmeldung tatsächlich ergriffen, um Susanna zu finden? Bis zuletzt beruft sich die Mainzer Polizei auf laufende Ermittlungen und später auf das Verfahren. Sie entzieht sich einer detaillierten Auskunft.
Am 14. Juni 2018 werden Fall und polizeiliches Vorgehen auch Thema im rheinland-pfälzischen Rechtsausschuss sein. Joachim Laux, für die Polizei zuständiger Abteilungsleiter im Innenministerium, wird trotz hoher Erwartungen der Öffentlichkeit an diesen Termin nicht mehr sagen, als zuvor bereits bekannt war: Die Mutter habe das Mädchen am Abend des 23. Mai als vermisst gemeldet. Es sei daraufhin eine umfassende Fahndung eingeleitet worden. Im Übrigen nehme man jede Vermisstenanzeige sehr ernst. Mehr sagt auch der Mainzer Polizeipräsident Reiner Hamm im Rechtsausschuss nicht, verweist vielmehr auf eingeschränkte Auskunftsvorgaben der Staatsanwaltschaft.
Doch das Verhalten der Mainzer Polizei unterscheidet sich doch stark von dem der Wiesbadener Kollegen: Diese führt früh und detailliert auf, welche Maßnahmen sie nach der Übernahme des Falls in die Wege leitet. Bis zum Prozess wird sich die Mainzer Polizei nicht näher zu den ergriffenen Maßnahmen zwischen dem 23. und 30. Mai äußern.

Foto: Lukas Görlach

Tag 9 – Mittwoch, 30. Mai 2018

Vom Vermisstenfall zum Verbrechen

Wiesbaden
Im Polizeipräsidium wird eine kleine Sonderkommission, Kürzel Soko 2205, zusammengestellt. Es gibt mehrfache Versuche der Kontaktaufnahme mit der Mutter jener Freundin, die am Tag zuvor, am 29. Mai, von einem Verbrechen an Susanna berichtet hatte.

POL-WI: Pressemitteilung der Wiesbadener Kriminalpolizei: 14-jährige Susanna F. vermisst

Wiesbaden (ots) Seit dem 22.05.2018 ist die 14-jährige Susanna F. aus Mainz vermisst. Zu diesem Zeitpunkt hielt sich die Jugendliche in der Wiesbadener Innenstadt mit Freunden auf. Sie sollte am Abend des 22.05.2018 zurück in die elterliche Wohnung kehren, was sie jedoch nicht tat. Aufgrund gesundheitlicher Probleme ist eine Gefahr für die Jugendliche nicht ausgeschlossen.

Bekannte Anlaufadressen sind die Innenstadt Wiesbaden (insbesondere die Kirchgasse und der Platz der Deutschen Einheit) sowie der Hauptbahnhof Wiesbaden. Die bekannt gewordenen Örtlichkeiten wurden durch die Polizei ohne Ergebnis kontrolliert. In diesem Zusammenhang wird heute Nachmittag im Bereich von Wiesbaden-Erbenheim auch ein Polizeihubschrauber mit einem Suchauftrag zum Einsatz kommen.

Es gibt darüber hinaus Hinweise, dass sie in Begleitung unterwegs ist und sich möglicherweise auf dem Weg ins Ausland befindet.

Susanna ist 1,50 Meter groß, kräftig, hat dunkelbraune Augen, trägt dunkle lange, meist offene Haare und ist in der Regel geschminkt. Bekleidet ist sie mit schwarzen Jeans, schwarzen Schuhen, einem schwarzen Cardigan und einem weißen Top. Hinweisgeber werden gebeten, sich bei der Wiesbadener Kriminalpolizei unter der Rufnummer (0611) 345-3333 zu melden.

Erst jetzt beginnen die Beamten damit, Telefonüberwachungen zu schalten, Verkehrsdaten abzufragen und Susannas Handy zu orten. Zeugen werden vernommen, Kinder aus den Schulen geholt. Die Polizei befragt die Bewohner der Flüchtlingsunterkünfte und wertet Handyverbindungen und Chatverläufe aus.
Ein Polizeihubschrauber überfliegt das in Frage kommende Gelände bei Erbenheim. Eine Stelle mit einer auffällig erscheinenden Erdbewegung wird dann am Boden vom Erkennungsdienst näher untersucht – kein Hinweis auf eine Leiche.

Unterm Strich will ich es so zusammenfassen: In der Phase Mittwoch (30. Mai, Tag 9) bis Samstag ( 2. Juni. Tag 12) haben wir zwar relativ viel gemacht, aber keinen kriminalistischen Anpacker gefunden.“

Stefan MüllerPolizeipräsident Wiesbaden

Tag 10 – Donnerstag, 31. Mai 2018

„Nicht akut genug“

Der Hausmeister der Flüchtlingsunterkunft im Kreuzberger Ring 38 wird später sagen, dass er an diesem Tag, es ist Fronleichnam, die irakische Familie zum letzten Mal in der Unterkunft gesehen haben will.

Die Seite von Susannas Mutter in dem sozialen Netzwerk „Facebook“ ist in diesem Fall  seit Tagen eine „öffentliche Ermittlungsgruppe“ und eine „Beratungsbörse“: Neben Tipps, Trost, Beistand und Aufmunterung gibt es auch vereinzelt Kommentare, die an die elterliche Aufsichtspflicht erinnern. Was als sachliche Feststellung geschrieben wird, löst wütende Reaktionen aus. Es finden sich jede Menge verletzende Kommentare, Wut- und Hasstiraden. Wut gibt es auch, weil ein geplanter Fernsehbeitrag über den Vermisstenfall Susanna nun doch nicht realisiert wird.

Tag 11 – Freitag, 1. Juni 2018

Die Vorbereitung der Flucht

Frankfurt
Nach seiner Rückkehr aus Paris taucht Ali am Vormittag des 1. Juni mit seiner Familie in der Frankfurter Westendstraße im Generalkonsulat der Republik Irak auf. Dieser Schritt zeigt: Den „Entscheidern“ in der Familie muss längst klar geworden sein, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein kann, bis der älteste Sohn festgenommen wird. Warum warten, bis die Polizei in der Unterkunft an die Türen der Familie klopft? Und fragt: „Ist ihr Sohn Ali da? Wir müssen dringend mit ihm reden.“ Warum riskieren, dass er festgenommen wird?

Foto: dpa

Die Familie beantragt Laissez-Passer-Papiere für die einmalige Einreise in den Irak. Keine Rückreise. Sie zaubern Papiere hervor, die es angeblich gar nicht mehr geben soll: Vorgelegt werden die irakischen Dokumente, die ihnen im Herbst 2015 Schleuser abgenommen hätten, wie sie nach ihrer  Ankunft in Deutschland behauptet hatten. Sie legen zudem deutsche Papiere über die Aufenthaltsgestattung durch die Stadt Wiesbaden vor.

In den deutschen Papieren steht, dass Ali am 3.11.1997 geboren sei. In den deutschen Papieren wird er seit der ersten Registrierung als Ali Bashar geführt. 174 Zentimeter groß, braune Augen. Nach einem Ali Bashar wird man später auch fahnden. Davon können zu diesem Zeitpunkt die Mitarbeiter im Konsulat noch nichts ahnen. Ali legt eine irakische Identitätskarte vor, am 17. April 2014 ausgestellt. Alis vermerkter Name lautetet darauf Ali Bashar Ahmad. Immerhin schon drei der tatsächlich vier Namensbestandteile. Später erst wird der vollständige Familienname Eingang in deutsche Papiere finden. In die Anklageschrift.

Als Alis Geburtsdatum werden die Iraker den 11.3.1997 nennen. Ein in diesem Fall gravierender Unterschied: Ali ist bei dem Verbrechen demnach 21 und nicht 20 gewesen. Für ihn gilt das Erwachsenenstrafrecht. 3.11. – 11.3. offenbar ein Zahlendreher. Auch dieser Teil des Falles wird die spätere öffentliche und politische Diskussion befeuern. Wie zutreffend sind die Angaben, die Flüchtlinge liefern? Was ist bewusste Täuschung? Was könnte Folge von Schludrigkeit oder mangelnder Sorgfalt einer unter dem Flüchtlings-Ansturm überforderten Bürokratie gewesen sein? Warum Ali und seine Brüder offiziell in Deutschland bei den Behörden immer nur mit dem unzutreffenden Familiennamen Bashar geführt wurden, wird sich auch später nicht erschließen.

Die Laissez-Passer-Papiere, notwendig zur Flucht aus Deutschland, werden im Generalkonsulat ausgestellt. Es gibt keinen Grund, diese Papiere zu verweigern. Ungewöhnlich ist die Rückreise auch nicht – es gehen viele zurück.

Bloß schnell weg

Um 21.29 Uhr werden über ein Online-Portal acht Flugtickets für je 667 Euro pro Person für einen Turkish Airlines Flug von Düsseldorf über Istanbul nach Erbil gebucht. In die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan. Im Norden des Irak. Abflug Samstag, 2. Juni 14.35 Uhr. Die Familie will möglichst schnell weg aus Deutschland. Erst viele Tage später wird man erfahren, dass Ali auch seiner Mutter erzählt haben soll, dass er ein Mädchen getötet habe. Wie viele aus der Familie wussten davon? Die Mutter wird später behaupten, dass man erst im Nordirak, durch die Verhaftung und die Nachrichten im Internet, davon erfahren haben will.

Weiterer Hilferuf

Susannas Mutter veröffentlicht auf Facebook einen verzweifelten Hilferuf an die Bundeskanzlerin und macht der Polizei schwere Vorwürfe:

Sehr geehrte Frau Merkel,…………….
dieser Brief ist ein HILFERUF!!!
Ich wende mich mit diesem Hilferuf an Sie, weil ich mich vom deutschen Staat sowie von unserem Freund und Helfer (Polzei) im Stich gelassen fühle!!!
Meine 14 Jährige Tochter Susanna wird seit dem 22.05.2018 vermisst. Seit diesem Tag fehlt von ihr jede Spur….
Es ist das allerschlimmste Gefühl auf der Welt was einer Mutter passieren kann, nicht zu wissen wo ihr Kind ist und , ob es ihm gut geht….
Wie kann es sein, dass die Polizei sich 5 Tage Zeit lässt und nichts tut und nur Dank unserer Rechtsanwältin endlich eine Handyortung sowie öffentliche Fandung veranlasst??? Es geht um ein 14 Jähriges Kind das noch nie bisher von zu Hause weg gelaufen ist!!!
Die Ungewissheit ist schon schlimm genug und dann diese Warterei bis sich was tut ist noch schlimmer. Wo ist denn dann unser Freund und Helfer?? Die liebe Polizei
Jeder vergangene Tag ist ein Alptraum und die Hölle!!!
Und dann erklärt sich RTL bereit, mit uns ein Interview zu drehen, weil Guten Morgen Deutschland das gerne ausstrahlen würde! Wir haben so viel Hoffnung daran gesetzt. Alles hinter uns gebracht, was uns nicht gerade einfach fiel… Es sollte entweder am Donnerstag den 31.05 oder Freitag den 01.05 ausgestrahlt werden. Dann kam der enttäuschende Anruf!! RTL ist doch noch nicht bereit, die Geschichte wäre nicht akut genug!!!! Was heißt nicht akut genug??? Es handelt sich hierbei um ein 14 jähriges Kind, dass seit bereits 10 Tagen spurlos verschwunden ist!!! Wie akut muss es denn noch sein????
Die Welt ist schon grausam genug und dann verlässt man sich auf das Fernsehen und die Polizei und bekommt gesagt, dass man doch irgendwo selber Schuld sei, dass es soweit gekommen ist.
Die Freunde der Kinder suchen sich leider nicht die Eltern aus!!!
Wir haben in den ersten 6 Tagen mehr Leistung erbracht als unser Freund und Helfer Polizei!!
Und wir suchen weiter! Wir geben nicht auf!!
Wir beten und hoffen jeden Tag, dass ihr nichts schlimmes zugestoßen ist und dass Sie noch lebt!!!
Vielen Dank, dass Sie sich etwas von Ihrer wertvollen Zeit genommen haben um diesen Hilferuf zu lesen!
Mit freundlichen Grüße Familie F.

Dieser „Hilferuf“ wird auf Facebook über 1000 Mal kommentiert – die Kommentare zeichnen ein Stimmungsbild aus einem zerrissenen Land.

Tag 12 – Samstag, 2. Juni 2018

Weg aus Deutschland

Mainz
Von Susanna fehlt noch immer jede Spur. Über Facebook sucht die Mutter weiterhin verzweifelt Hilfe und Hinweise. Auf Facebook schreibt die Mutter:

„Von meiner Tochter Susanna fehlt immer noch jede Spur. Jeder vergangene Tag ist ein Alptraum und die Hölle für uns!!! Auch ihre kleine Schwester vermisst sie. Bitte teilt fleißig weiter, damit sie endlich (hoffen wir) gefunden werden kann“

Die Mutter schreibt auch:

„Keiner kann sie erreichen. Weder auf Instagram, auf snapchat, über Facebook, noch Whatsapp“

Düsseldorf
Den Flug um 14.35 Uhr tritt die Familie nicht an. Es wird umgebucht auf einen Abendflug, 19.10 Uhr. Mit den Umbuchungsgebühren soll dieser Teil der Flucht rund 8000 Euro gekostet haben. Mit dem Geld, das die Familie in Wiesbaden nach dem Asylbewerberleistungsgesetz jeden Monat erhält, wäre das nicht zu finanzieren. Hatten sie Geld zurückgelegt? Oder hatten sie Unterstützung?
Den Flug treten zwei Erwachsene und sechs Kinder an. Die Ticketbuchungen laufen auf den Familiennamen Zebari, dieser Name ist den Ermittlern bis dahin im Zusammenhang mit dem gesuchten Ali Bashar nicht bekannt.
Bei der Ausreisekontrolle gegen 18 Uhr durch die Bundespolizei werden zwei Laissez-Passer-Papiere für je vier Personen, ausgestellt vom irakischen Generalkonsulat in arabischer Schrift mit Lichtbild vorgelegt. Der Familienname lautete „Zebari“. Die Fotos stimmen mit den Personen überein, die Deutschland verlassen wollten. Die Papiere sind echt und gültig.
Neben den Bordkarten werden acht Aufenthaltsgenehmigungen für die Bundesrepublik vorgelegt, ausgestellt in Wiesbaden, auf den Familiennamen „Bashar“. Später wird heftig darüber debattiert, wer „Schuld“ daran haben könnte, dass die Familie unbehelligt ausreisen konnte. Bei der grenzpolizeilichen Kontrolle sei ein Abgleich von Flugticket und vorgelegten Ausweispapieren nicht vorgesehen, wird die Bundespolizei erklären. Der Name Ali Bashar hätte bei der Ausreise an diesem Tag keinen Alarm auslösen können – der junge Iraker wird erst zwei Tage später zur Fahndung ausgeschrieben.

Foto: dpa

Istanbul
Die Maschine mit den Flüchtenden landet um 23 Uhr. Wie Ali geglaubt haben muss, scheint der erste erfolgreiche Schritt geglückt, sich der Verantwortung für die Verbrechen in Deutschland zu entziehen. Die Familie hat eine Wartezeit zu überbrücken, bis es weitergeht in den Norden des Irak.

Tag 13 – Sonntag, 3. Juni 2018

Die Heimkehr und der „Kronzeuge“

Istanbul
Die Familie setzt ihre Flucht fort, sie nimmt um 12.20 Uhr einen Anschlussflug nach Erbil. Von dort geht es dann weiter in Richtung ihrer Heimatstadt Zakho, die sie 2015 verlassen hatten. Sie kehren zurück, um den Sohn, der Verbrechen begangen hat, zu retten. Zu retten vor der deutschen Strafverfolgung. Mit dieser Flucht soll sich übrigens auch ein weiterer Bruder den Ermittlern und der Justiz entziehen. Er soll einen schweren Raubüberfall begangen haben.
Gegenüber Angehörigen im Irak soll die Familie ihre überraschende Rückkehr damit erklärt haben, dass der Vater, der in Deutschland einen Schlaganfall erlitten hatte und seither halbseitig gelähmt ist, seine „letzten Tage in der Heimat Kurdistan verleben“ wolle. Was soll man sonst sagen? Dass man aus Deutschland abgehauen ist, weil der älteste Sohn ein 14-jähriges Mädchen getötet hat?

Foto: Sascha Kopp

Wiesbaden
Gegen 18.30 Uhr erscheint Mansoor, der junge afghanische Flüchtling, auf dem 1. Polizeirevier am Platz der deutschen Einheit. Er kommt als Zeuge und was er erzählt, alarmiert alle: Die vermisste Susanna sei vergewaltigt und getötet worden, er kenne auch den Täter, er heiße Ali und sei ein Freund von ihm. Mansoor sagt auch, wo in etwa die Leiche gefunden werden könnte. Ab da gilt er als eine Art „Kronzeuge“.

Alles konzentriert sich nun auf diesen Ali. Die Polizei fährt in der Nacht zur Flüchtlingsunterkunft im Kreuzberger Ring, um sich von außen einen Überblick über die Räume der Familie zu verschaffen. Da ist niemand mehr. Als man sie das letzte Mal gesehen habe, hätten sie große Taschen geschleppt, heißt es. Ihr Gepäck für die Flucht, wie sich dann später herausstellt, nachdem die Polizei sich auch in den vier Räumen der Familie umgesehen hat. Alles deutet auf einen überstürzten Aufbruch hin. Vom Hausmeister der Flüchtlingsunterkunft erfährt die Polizei, dass die Familie die Post vom Freitag, 1. Juni, nicht abgeholt habe.

Tag 14 – Montag, 4. Juni 2018

Die Fahndung kommt in Gang

Wiesbaden
Um 3.30 Uhr geht die Fahndung der Wiesbadener Polizei nach Ali Bashar, nur dieser Namen ist bekannt, online.

Ab Montagmorgen sucht die Polizei in dem von dem jungen Afghanen Mansoor beschriebenen Gelände in Wiesbaden-Erbenheim an der Bahnlinie und im Feld nach Hinweisen auf Susanna. Im Einsatz sind über 100 Polizeibeamte, ein Spürhund und der Polizeihubschrauber.

Fotos: dpa

Meldung der Polizei – 04.06.2018 – 14.18

Wiesbaden (ots) – Wiesbaden-Erbenheim 04.06.2018
Einsatzkräfte des Polizeipräsidiums Westhessen und der Hessischen Bereitschaftspolizei suchen derzeit im Bereich von Wiesbaden-Erbenheim nach Spuren im Zusammenhang mit dem Vermisstenfall der 14-jährigen Susanna Maria F. Die Jugendliche wird seit dem 22.05.2018 vermisst. Bereits in der vergangenen Woche waren Such- und Ermittlungsmaßnahmen eingeleitet worden, die jedoch nicht zum Auffinden der Vermissten geführt haben. Gestern Abend ging bei der Wiesbadener Polizei ein Zeugenhinweis im Zusammenhang mit dem Vermisstenfall ein. Aufgrund des Hinweises wurden die Suchmaßnahmen, die momentan noch andauern, im Bereich von Wiesbaden-Erbenheim am heutigen Tag fortgesetzt. Im Hinblick auf die weitere Polizeiarbeit bitten wir um Verständnis, dass wir zunächst keine weitergehenden Angaben machen können.

Beim Amtsgericht Wiesbaden wird ein Durchsuchungsbeschluss erwirkt, nun können die Ermittler in den vier Räumen der Familie in der Flüchtlingsunterkunft nach Hinweisen suchen.

Mainz
Immer mehr Menschen nehmen auf Facebook Anteil an dem Fall, der offiziell noch immer als Vermisstenfall geführt wird. Auch wenn sich die Hinweise verdichten, dass mit einem Tötungsdelikt gerechnet werden muss.
Susannas Mutter spürt, dass die Clique in Wiesbaden etwas weiß, aber nicht sagt. Sie wendet sich in ihrer Verzweiflung mit einer Nachricht direkt an die Freunde. Sie bittet. Sie appelliert.

Immer mehr Menschen interessieren sich für den Fall. Viele leiden mit der Mutter und schreiben ihr das. Es gibt aber auch verletzende Kommentare.

Tag 15 – Dienstag, 5. Juni 2018

Fernseh-Fahndung

Mainz
Auf der Facebook-Seite von Susannas Mutter wird diskutiert, ob man einen Privatdetektiv in die Suche einschalten könne. „Darüber haben wir auch schon nachgedacht“, meint die Mutter. Aber Detektive würden bis zu 2000 Euro am Tag kosten. In den Kommentaren wird über einen Spendenaufruf nachgedacht. „Das ist eine hammer Idee“, heißt es.

An diesem Morgen berichtet RTL, dass ein „rätselhafter Fall die Polizei in Rheinland-Pfalz und Hessen in Atem hält“ – die vermisste Schülerin Susanna.

Tag 16 – Mittwoch, 6. Juni 2018

Schreckliche Gewissheit

Wiesbaden
In der Feldgemarkung Erbenheim ist wieder ein Großaufgebot der Polizei unterwegs. Mit Hochdruck wird gesucht.

Fotos: dpa

Im Feld bei Erbenheim sind wieder über 100 Polizeibeamte in die Suchaktion eingebunden. Auf dem freien Gelände kommt auch eine Reiterstaffel zum Einsatz.

Gegen 14 Uhr macht ein Beamter der Bereitschaftspolizei in einem unwegsamen Geländestück der Gemarkung „Unterm Kalkofen“ eine Beobachtung, die ihn näher nachschauen lässt. Er sieht im Dickicht etwas weiß Schimmerndes. Als er näher herangeht, sieht er, dass es das Etikett von einem Kleidungsstück ist. Es ist die Stelle, nach der seit Tagen gesucht worden war. In einem mit Gräsern und Ästen abgedeckten etwa 35 Zentimeter tiefen Erdloch liegt eine Leiche. Susannas Leiche. Rund zehn Meter von den Bahngleisen entfernt. Die Nachricht sickert durch, ein großes Medienaufgebot findet sich in Erbenheim ein. Die Polizei sperrt weiträumig ab. Eine offizielle Bestätigung, dass es Susanna ist, gibt es an diesem Tag nicht. Auch wenn bei dem Leichnam eine Fahrkarte gefunden wird – ausgestellt auf Susanna. Für die offizielle Bestätigung wird das Ergebnis der Obduktion abgewartet. In der Nacht wird die Leiche im Institut für Rechtsmedizin in Frankfurt obduziert.

Wiesbaden
Es ergeht ein Haftbefehl gegen Ali Bashar. Die Aussagen seines Freundes Mansoor, der Leichenfund und die Flucht erhärten einen dringenden Tatverdacht.

Am Mittwochabend wird in der Flüchtlingsunterkunft in der Berliner Straße 180 in Erbenheim Ferdi A. als mutmaßlich Verdächtiger festgenommen. Er hatte in der Nacht zum 23. Mai das Zimmer zur Verfügung gestellt, er war lange mit Ali und Susanna zusammen. Auch die Nachricht von einer ersten Festnahme macht schnell die Runde. Der Türke wird umgehend vernommen. Was weiß er?

Tag 17 – Donnerstag, 7. Juni 2018

Erste Details kommen ans Licht

Wiesbaden
Bei der gemeinsamen Pressekonferenz von Staatsanwaltschaft und Polizei zum Fall „Susanna“ herrscht im Justizzentrum in der Mainzer Straße großer Medienandrang. Erste Details werden öffentlich gemacht.

Fotos: Sascha Kopp

Oberstaatsanwalt Oliver Kuhn:

„Nach dem derzeitigen Ermittlungsstand, insbesondere nach der Auffindesituation des Leichnams und den Ergebnissen der noch in der Nacht durchgeführten Obduktion des Leichnams, müssen wir davon ausgehen, dass die Verstorbene Opfer eines Sexual- und eines Gewaltdeliktes geworden ist. Der Tatverdacht richtet sich momentan gegen insgesamt zwei Beschuldigte, welchen gemeinschaftliche Vergewaltigung und Mord zu Last gelegt wird. Bei den Beschuldigten handelt es sich zum einen um den hier an meiner rechten Seite abgebildeten 20-jährigen, irakischen Staatsangehörigen Ali Bashar, zum anderen um einen 35-jährigen türkischen Staatsangehörigen. Beide waren in Wiesbaden in Flüchtlingsunterkünften untergebracht.“

„Es war aber auch so, dass bekannt war, dass sie die Schule geschwänzt hatte seit Februar, dass sie öfters abgängig war, ohne dass die Polizei eingebunden war und soweit war es kein einfacher Vermisstenfall.“

Stefan MüllerPolizeipräsident

Berlin
Der Zentralrat der Juden bestätigt, dass Susanna Mitglied der Jüdischen Gemeinde Mainz war. Der Zentralrat warnt vor voreiligen Schlüssen und Spekulation, aber genau das setzt nun ein:

Entsetzen über die Ermordung der 14-jährigen Susanna
Mit tiefer Betroffenheit hat der Zentralrat der Juden in Deutschland die Nachricht von dem Gewaltverbrechen an der 14-jährigen Susanna aus Mainz vernommen. Einem jungen Leben wurde auf grausame Weise ein Ende gesetzt. Unser tiefes Mitgefühl gilt den Angehörigen und Freunden. Susanna war Mitglied der Jüdischen Gemeinde Mainz.
Derzeit sind viele Hintergründe der Tat noch unklar. Wir erwarten von den Strafverfolgungsbehörden eine rasche und umfassende Aufklärung sowie harte Konsequenzen für den oder die Täter. Voreilige Schlüsse oder Spekulationen verbieten sich jedoch.

In das Verbrechen wird in Teilen der Öffentlichkeit nun als mögliches Motiv hineininterpretiert, dass der Täter ja muslimischen Glaubens sei und dass bei seiner Tat auch die Religion eine Rolle gespielt haben könnte. Das wird selbst Monate später in verschiedenen Berichten immer noch thematisiert. Hier die Jüdin, dort der Moslem. Hier das Opfer, dort der Täter.
Es ist eine Deutung, die im konkreten Fall und an dem Motiv von Ali Bashar völlig vorbei geht. Sein Verbrechen war sexualisierte Gewalt. Nichts spricht dafür, dass er überhaupt gewusst haben dürfte, welcher Religion Susanna angehörte.

Wiesbaden
Der zunächst beschuldigte 35-jährige Türke wird am Abend wieder freigelassen. Es bestehe laut Staatsanwaltschaft nun kein dringender Tatverdacht mehr. Der Mann hat ein Alibi, einen dokumentierten Chatverlauf mit seiner Freundin.

Foto: dpa

Für immer weg?

In Deutschland herrscht Entsetzen. Aber auch Wut und völliges Unverständnis darüber, dass Ali Bashar mit sieben weiteren Familienmitgliedern problemlos von Düsseldorf aus in seine Heimat zurückfliegen konnte. Von Sicherheitslücken bei den Ausreisekontrollen ist die Rede, über ein weiteres Versagen des Staates wird heftig debattiert. Mit dieser Flucht könnte der junge Iraker für immer unerreichbar sein für die deutsche Strafverfolgung. Es gibt kein Rechtshilfeabkommen zwischen Deutschland und der Republik Irak. Die Autonome Region Kurdistan, die Heimat der Familie, ist Teil der Republik. Ein offizieller Weg, Susannas Mörder in Deutschland vor Gericht zu bringen, könnte sich lange hinziehen. Über Wochen. Über Monate. Und der Weg könnte auch ergebnislos enden. Dass sich Ali Bashar, ein irakischer Staatsbürger, im Irak für das Tötungsdelikt in Deutschland zu verantworten haben könnte, ist ausgeschlossen. Im Irak droht ihm für dieses Verbrechen die Todesstrafe. Deutschland kann daher keinen Strafverfolgungsantrag stellen.

Die Verfolger
Es werden an mehreren Stellen Überlegungen angestellt, wie der Geflüchtete im fernen Kurdengebiet doch noch geschnappt werden könnte. Es sind dabei auch Überlegungen abseits der klar geregelten, offiziell  vorgeschriebenen juristischen Vorgehensweise. Diesen Überlegungen ist gemeinsam: Es muss ganz schnell gehandelt werden. Es darf keine weitere Zeit verloren gehen. Denn dann könnte dieser Ali Bashar tatsächlich für immer weg sein.

Der private Verfolger

Dr. Aram Bani ist Arzt. Und Kurde. Als junger Mann war er 1992 nach Deutschland geflüchtet. Als er in einer Eilmeldung vom Verbrechen in Wiesbaden liest und von der Flucht Alis in die Autonome Region Kurdistan, handelt er. Dieser Mann muss gefasst werden. Zusammen mit seiner Frau Juliane wird er aktiv. Aram Bani hat beste Kontakte in die Autonome Region Kurdistan. Und die nutzt er.

Für die ganze Geschichte klicken Sie auf das Bild.

Dr. Bani – Der private Verfolger

Als der Neurochirurg Dr. Aram Bani in Singen/Hohentwiel am Donnerstagnachmittag nach Stunden im OP zurück an seinen Schreibtisch kommt, liest auch er die Schlagzeilen: Susanna, 14 Jahre, aus Mainz. Vergewaltigt. Ihre in Wiesbaden verscharrte Leiche gefunden. Ein Mann namens Ali Bashar in die Autonome Region Kurdistan geflüchtet. Aram Bani liest auch die Mutmaßungen, dass dieser Ali Bashar sich mit der Flucht wohl für immer der deutschen Justiz entzogen haben könnte.
Aram Bani ist entsetzt über das Verbrechen. Vielleicht hat der Neurochirurg dabei auch an seine eigenen Kinder gedacht, darunter drei Töchter. Damals zehn, zwölf und 18. Später wird er sagen, dass ein Täter wie dieser Ali Bashar nicht ungeschoren davon kommen dürfe. Nur weil er sich nach Kurdistan abgesetzt hat. Bani ist selbst Kurde, er war vor vielen Jahren als Flüchtling nach Deutschland gekommen.
Aus dem leitenden Neurochirurgen des Hegau-Bodensee-Klinikums, der dort auch eine eigene Praxis hat, wird der private Verfolger Aram Bani. Ein hartnäckiger Verfolger mit besten Verbindungen in die Autonome Region. Er hat Kämpfer der Peschmerga, der Armee der Autonomen Region, operiert. Er hat einen Namen, der zählt. Bis hin zum Innenminister Karim Sinjari. Der wird später über Bani sagen: „Sein Wunsch ist mir Befehl.“ Und dieser Dr. Bani denkt: „Wenn schnell gehandelt wird, dann hat die Gerechtigkeit eine Chance. Dann kriegen wir den.“
Aram Bani probiert zunächst den offiziellen Weg in Deutschland. Er meldet sich bei der Polizei in Wiesbaden, bietet seine Hilfe an. Man verweist ihn weiter, zuständig sei die Staatsanwaltschaft Wiesbaden. Dann ruft er dort an. Nach dem Telefonat hat er das Gefühl, dass er nicht weiterkommt. „Vielleicht haben sie bei der Staatsanwaltschaft auch gedacht – was will denn dieser verrückte Doktor?“ Aram Bani ist frustriert und er fürchtet – so wird das nichts.
Und dann geht alles doch ganz schnell. Es beginnt mit einem Foto.
Um 20.07 Uhr ploppt über WhatsApp auf dem Smartphone von Aram Bani ein Foto auf. Geschickt hat es sein Freund Safeen Sindi, auch er Arzt. In Erbil. Das Foto zeigt Sindi, der sich mit einem guten Bekannten in einer Kneipe getroffen hat. Zwei gut Gelaunte im Feierabend, „just now“ – gerade eben, schreibt Sindi. Er sitzt mit Vahal Ali Balaty zusammen, und der ist Regierungssprecher im Büro des Präsidenten der Autonomen Region Kurdistan. Ein sehr einflussreicher Mann.
Um 20.23 Uhr kommt die private Verfolgung in Gang. Aram Bani schickt ein Foto zurück, es zeigt einen deutlich weniger gut Gelaunten – es ist das Fahndungsfoto der Wiesbadener Polizei von Ali Bashar. Dieser junge Mann sei vor ein paar Tagen in Erbil gelandet, er sei dringend tatverdächtig, ein 14 Jahre altes Mädchen vergewaltigt und ermordet zu haben. Dieser Mann heiße Ali Bashar.

Um 20.26 Uhr schreibt Bani: „Bitte nehmt ihn fest.“
Er schickt den Verweis auf ein Video bei YouTube der gemeinsamen Pressekonferenz von Polizei und Staatsanwaltschaft vom Vormittag in Wiesbaden. „Schaut euch das bitte an.“
Dann geht es fast im Minutentakt hin und her. Singen - Erbil. Erbil-Singen. Und um 20.33 Uhr liest Aram Bani den Satz, den er sich erhofft hat: Der Regierungssprecher werde alles Notwendige in die Wege leiten. Das Büro des Präsidenten sei eingeschaltet, der Innenminister informiert.
Das Foto des Gesuchten wird in der Autonomen Region Kurdistan in Windeseile verbreitet. Die Sicherheitsbehörden werden aktiv. Alle Hebel werden in Bewegung gesetzt. Auf der Ebene der persönlichen Beziehungen sind keine zeitraubenden Fristen oder Formalitäten zu beachten. Es ist die direkte Handlungsebene. Wo könnte die Familie des Gesuchten Unterschlupf gefunden haben? Was sind Anlaufstationen für eine Familie, die sich in der alten Heimat wieder neu sortieren muss? Nach der Festnahme wird Dr. Bani sein Engagement in einem knappen Satz so zusammenfassen: „Es hat sich gelohnt.“

Foto: Andrea Kümpfbeck, Augsburger Allgemeine

Der halb-offizielle Verfolger

Dr. Dieter Romann ist Verwaltungsjurist. Seit dem 1. August 2012 steht er als Präsident an der Spitze der deutschen Bundespolizei. Als er von dem Verbrechen erfährt und von der Flucht Alis in die Autonome Region Kurdistan, handelt er. Offiziell tut er das ohne Auftrag. Dieser Mann muss gefasst werden. Dieter Romann hat beste Kontakte in die Autonome Region Kurdistan. Und die nutzt er.

Für die ganze Geschichte klicken Sie auf das Bild.
Foto: dpa

Dieter Romann – Der halb-offizielle Verfolger

Die private Initiative des Dr. Aram Bani verstärkt, was über andere Kanäle an die Verantwortlichen der Autonomen Region Kurdistan herangetragen wird – helft uns! Sucht diesen Mann!

Diesen Wunsch hat Dieter Romann, der Präsident der deutschen Bundespolizei, den Kurden übermittelt. Und zwar an höchster Stelle. Romann pflegt seit vielen Jahren gute Beziehungen zur Barzani-Familie, die im kurdischen Teil des Iraks den Ton angibt. Masoud Barzani war von 2005 bis 2017 Präsident der Autonomen Region Kurdistan im Nordirak. Zur Familie gehört auch Masouds Bruder Dilshad Barzani, der Botschafter der Autonomieregierung Kurdistans in Deutschland. An ihn soll sich Romann mit der Bitte um Unterstützung gewandt haben. Direkter, dringlicher und schneller geht es nicht. Als das auf den Weg gebracht wird, wird Ali Bashar zwar mit Haftbefehl gesucht, es ist aber offiziell noch keine internationale Fahndung eingeleitet. Auch Romann will den schnellen Erfolg. Und die Kurden sind froh, so scheint es, ihm diesen Gefallen erweisen zu können.

Foto: dpa

Ali Bashar ahnt nicht im Entferntesten, dass er nur noch wenige Stunden in Freiheit sein wird

Zakho/Autonome Region Kurdistan im Nordirak
Ali Bashar ist nach der Flucht in den Nordirak dorthin zurückgekehrt, wo er gelebt hat, wo er viele Leute kennt und wo ihn wiederum viele Leute kennen. In die Stadt Zakho. Er sei alleine nach Zakho gekommen, wird es später heißen. Eines der letzten Fotos, das ihn in Freiheit zeigt, hat eine Überwachungskamera in einem Goldschmuck-Laden auf dem alten Markt in Zakho aufgenommen.

Foto: Younes Mohammad

Bei den Ladenbesitzern war Ali Bashar bestens bekannt, weil sein Vater als Wachmann für die Ladenbesitzer gearbeitet hatte, und sein ältester Sohn hatte ihn vertreten, wenn der Vater krank oder durch andere Geschäfte verhindert war. Ali hatte einige Freunde hier. Ein oder zwei Tage vor seiner Festnahme soll er in einem der Goldschmuck-Läden vorbeigeschaut haben. Er habe sich mit einem Freund zum Schwimmen verabreden wollen, wie sie es früher oft getan hatten. Er soll im Laden um das Handy des Ladenbesitzers gebeten haben, weil der Akku seines Handys leer gewesen sei. Dann soll er mit seinem Freund telefoniert haben. Wahrscheinlich ist, dass er sein Handy nicht mehr benutzen wollte, um keine digitale Spur zu hinterlassen.
Er muss sich sehr sicher gewähnt haben. Ali Bashar ahnt nicht im Entferntesten, dass er nur noch wenige Stunden in Freiheit sein wird.

Dohuk/ Autonome Region Kurdistan im Nordirak
In der Provinzhauptstadt Dohuk stellt der Polizeichef Tariq Ahmad, kaum dass ihn das Innenministerium der Autonomen Region Kurdistan mit Sitz in der Hauptstadt Erbil mit den Informationen und Fotos aus Deutschland versorgt hat, eine kleine Fahndungstruppe zusammen.


	
Foto: Younes Mohammad

Die kurdischen Sicherheitskräfte finden erstaunlich schnell heraus, wo sich ihre Zielperson befindet – und zwar in der Stadt Zakho. Zunächst soll er sich in einem Hotel in Dohuk mit der Familie aufgehalten haben.  Das aber scheint ihm nicht sicher genug. Also weiter nach Zakho, in die Heimatstadt. Die kurdischen Sicherheitskräfte erfahren schon bald, wo der Gesuchte Unterschlupf gefunden hat. Bei Verwandten. Ein Kontakt wird aufgenommen. Polizeichef Ahmad wird später schildern: „Als wir dieser Person gesagt haben, dass Ali Bashar im Verdacht steht, ein Mädchen in Deutschland getötet zu haben, entschlossen sich die Verwandten zu kooperieren.“

Es gilt, nur noch die beste Zeit für den nächtlichen Zugriff abzuwarten und das Überraschungsmoment zu nutzen. Ali wird observiert. Die Kurden glauben, dass er schon dabei ist, sich in eines der Nachbarländer abzusetzen. Nach Syrien, wird es später heißen. In Syrien ist die Lage in einigen Teilen des Landes wegen der Kämpfe, die dort seit Jahren ausgetragen werden, unübersichtlich. Dort kann man untertauchen.

Tag 18 – Freitag, 8. Juni 2018

„Wir haben ihn!“

Zakho, Autonome Region Kurdistan im Nordirak
Gegen Morgen, um 5.30 Uhr, greift die Spezialeinheit zu. Hinter den Mauern eines rosa gestrichenen Anwesens.

Foto: Younes Mohammad

Im Innenhof des Hauses, wo sich der Verdächtige unter einem Strauch wie ein Igel zum Schlafen zusammengerollt haben soll, wird Ali Bashar festgenommen. Widerstandslos.
„Als ich ihm die Handschellen anlegte, hat er gezittert wie Espenlaub, und das war nicht wegen uns, das war wegen der Deutschen.“ Dilbreen Hassan Mustafa, Polizeichef der kurdischen Stadt Zakho, zitiert nach „Die Welt“.

„Wir haben ihn“, übermitteln die Kurden umgehend. Eine in Deutschland sehnlichst erwartete Nachricht. Große Erleichterung.

Fotos: Kurdistan24

Die Nachricht erreicht umgehend auch Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU), und zwar in Quedlinburg (Sachsen-Anhalt), wo vom 6. Juni bis 8. Juni die Konferenz der Innenminister und -senatoren der Länder tagt. Seehofer steht am Rednerpult, es ist die abschließende Pressekonferenz, als ihm sein Handy gereicht wird.

Foto: dpa

Es ist eine Nachricht, die auch von ihm wie von der Politik insgesamt, etwas Druck nimmt – Ali Bashar ist gefasst. Immerhin. Ein Erfolg, den Seehofer umgehend verkündet. Die Festnahme sei auf Bitten der Bundespolizei erfolgt. Die Nachricht kommt von Dieter Romann, dem Präsidenten der Bundespolizei.

„Ich danke den beteiligten kurdischen Sicherheitskräften, die diese Verhaftung möglich gemacht haben. Dieser Erfolg ist ein Ergebnis der guten Zusammenarbeit zwischen den kurdischen Sicherheitsbehörden im Irak und der deutschen Bundespolizei.“

Horst SeehoferBundesinnenminister

Gefasst – aber wie geht es weiter?

Nach der Festnahme stellt sich ein praktisches Problem: Wie kommt Ali Bashar, ein irakischer Staatsbürger, nach Deutschland, damit ihm in Wiesbaden der Prozess gemacht werden könnte? Zuständig für ihn ist die Zentralregierung in Bagdad.
Die Zentralregierung wird dann überhaupt nicht gefragt. Die Kurden und die Deutschen spielen zusammen.
Das Magazin „Der Spiegel“ schreibt, dass der kurdische Botschafter in Deutschland, Dilshad Barzani, den Chef der Bundespolizei gefragt haben soll: „Holst du ihn selber ab?“

Grafik: dpa; Bearbeitung: VRM/mv

Die Sprachregelung der Rückhol-Aktion wird im Nachhinein so lauten: „Die Behörden der Region Kurdistan-Irak haben Ali B. in dortiger Verantwortung nach Deutschland abgeschoben.“ So formuliert es am 5. Juli 2018 der Parlamentarische Staatssekretär im Bundesinnenministerium, Stephan Mayer, auf Anfrage des AfD-Bundestagsabgeordneten Stephan Brandner. Nur: Nach irakischem Recht können von dort nur Ausländer abgeschoben werden. Ali Bashar ist aber kein Ausländer, er ist irakischer Staatsbürger. In der politisch aufgeladenen Debatte wird das, abgesehen von wenigen kritischen juristischen Stimmen, übergangen.

Das Auswärtige Amt und die Justiz sind an dem Vorgang nicht beteiligt. Ein auf diplomatischem Weg übermitteltes Auslieferungsersuchen hat nicht stattgefunden.

Den Menschen, die der Fall seit Tagen tief bewegt und entsetzt, sind die Feinheiten der ministeriellen Zuständigkeiten und völkerrechtliche Fragen völlig egal. Sie unterschreiben voll und ganz den Satz, mit dem Romann im Zusammenhang mit der Rückhol-Aktion später zitiert wird:

„Das sind wir der Mutter des toten Mädchens schuldig.“

Dieser Satz wird sich in die öffentliche Wahrnehmung tief einprägen.

Foto: dpa

Die Umstände der Rückhol-Aktion werden im Nachgang eine juristische Diskussion entfachen. War das rechtmäßig? Wenn nein, welche Konsequenzen könnte das dann haben für den in Wiesbaden anstehenden Prozess? Könnte es ein Verfahrenshindernis sein, das einem Prozess gar im Wege stünde? Einem Prozess, das zeigt sich später, steht es nicht im Wege. Aber die Rückhol-Aktion hat die Souveränität der Republik Irak verletzt.

Die Kraft des Faktischen

Wiesbaden
Bei der Staatsanwaltschaft Wiesbaden beschäftigt man sich mit dem Gedanken, ob auf dem Weg der förmlichen Rechtshilfe eine Auslieferung betrieben werden könnte. Die Landesjustizverwaltung Hessen übermittelt an das Bundesamt für Justiz (BfJ) eine Anfrage auf Vorprüfung eines möglichen Auslieferungsersuchens. Die juristischen Überlegungen werden wenige Stunden später von der Kraft des Faktischen überholt.

Dass der Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, längst einen Weg des formlosen „Abholens“ auf der Grundlage von Männer-Freundschaft, gegenseitiger Wertschätzung und Zusammenarbeit anbahnt, ahnt man bei der Wiesbadener Staatsanwaltschaft nicht.

Am Abend gibt es einen Anruf in der Redaktion des Wiesbadener Kurier. Anonym. Ali Bashar werde schon bald wieder zurück sein in Deutschland. Die Vorbereitungen dazu seien bereits im Gange. „Seien Sie versichert, der Mann ist bald wieder her. Sie werden sehen, das wird gar nicht mehr so lange dauern.“ Und so wird es auch kommen.

In Erbenheim treffen sich einige aus Susannas Clique an der Brücke, die über die Bundesstraße 455 führt. An dem Weg, der weiter ins Feld führt. Hin zu den Tatorten. Die Kinder und Jugendlichen errichten eine provisorische Gedenkstätte, Fotos und Briefe, kleine Zettel werden abgelegt. Und es findet sich auch ein Zettel, den Mansoor, der junge Afghane, geschrieben haben soll:

„Liebe Susanna es tut mir sehr leid dass ich zu spät zur Polizei gegangen (…) als du gestorben bist ich war der einzige das wüsste…ich werde diese Tag niemals vergessen.“

Da ahnt kein Mensch, dass dieser Mansoor selbst Verbrechen verübt haben soll. Nicht einmal vier Wochen später, Anfang Juli 2018, wird er in Untersuchungshaft genommen.

Fotos: dpa, Sascha Kopp

Tag 19 – Samstag, 9. Juni 2018

Die Rückholung

Frankfurt
Die Rückholung läuft von Frankfurt aus. Es gibt einen Direktflug der Lufthansa nach Erbil, die Hauptstadt der Autonomen Region Kurdistan. Eine Distanz von rund 3200 Kilometer. Als der Airbus mit der Kennung LH696 kurz nach 10 Uhr abhebt, ist der Chef der Bundespolizei, Dieter Romann, mit weiteren unbewaffneten Bundespolizisten an Bord. An Bord sind drei Sky-Marshalls, bewaffnete Polizisten ohne Uniform. Flugsicherheitsbegleiter. Dabei ist auch eine Ärztin der Bundespolizei. Ihre Aufgabe wird es sein, die Flugtauglichkeit des Mannes zu untersuchen, den die Kurden werden loswerden wollen.

Dohuk/Autonome Region Kurdistan im Nordirak
Polizeichef Tariq Ahmad ist ein gefragter Interviewpartner, der Fall beschäftigt auch die kurdischen Medien. In einem Interview schildert er auch dem Sender Kurdistan24 die Umstände der Festnahme.

Übersetzung

Der Beschuldigte wurde in einem Stadtteil der Kreisstadt Zakho festgenommen. Nach seiner Festnahme wurde er von Ermittlungsbeamten dem Ermittlungsrichter in Zaxo vorgeführt. Der Beschuldigte hat im Rahmen der Vorführung den Vorwurf eingeräumt.
Der Beschuldigte heißt Ali Bashar Ahmad. Er stammt aus Zakho und war nach Deutschland gegangen. Der Beschuldigte räumte den Vorwurf ein. Es wäre so gewesen, dass er und das 14-jährige Mädchen beziehungsweise minderjährige Mädchen, mit der er befreundet gewesen sei, gemeinsam an einen Ort außerhalb der Ortschaft einen Ausflug gemacht und dort Alkohol und Drogen zu sich genommen hätten. Danach habe es Unstimmigkeiten zwischen ihnen gegeben und das Mädchen habe versucht, die Polizei zu benachrichtigen. Dieser Junge habe Angst bekommen, weil er Rauschgift, Drogen konsumiert und ein minderjähriges Mädchen vergewaltigt hatte. Er habe versucht, das Mädchen davon zu überzeugen, die deutsche Polizei nicht zu benachrichtigen. Das Mädchen sei entschlossen gewesen, die Polizei zu benachrichtigen. Deshalb habe dieser Junge, der Beschuldigte, das Mädchen festgehalten und mit den Händen erwürgt. Nachdem er das Mädchen erwürgt habe, habe er diese im Wald, in der Nähe einer Straße vergraben und ihren Körper mit Erde und anderen Dingen verdeckt.

(Übersetzt von Zeynep Akay, Dolmetscherin der türkischen und kurdischen Sprache im Auftrag der VRM)

Erbil/Autonome Region Kurdistan im Nordirak
Die Polizei der Autonomen Kurdenregion bringt Ali Bashar zum Flughafen, wo gegen 15.25 Uhr die Lufthansa-Maschine aus Deutschland eintrifft. Die Zeitverschiebung zwischen Frankfurt und Erbil beträgt zwei Stunden. Bis auf Romann bleiben alle Bundespolizisten an Bord der Maschine. Wie das Magazin „Der Spiegel“ später berichten wird, soll der Chef der Bundespolizei aus protokollarischen Gründen in einer Regierungslounge bei Tee und Obst seinen Bekannten Dilshad Barzani und den Innenminister der Kurdenregion getroffen haben. Um kurz nach 16 Uhr hebt die Lufthansa-Maschine ab. Ziel Frankfurt. Mit an Bord Ali Bashar, den die Kurden in den Flieger gebracht haben.
Er wird später sagen, dass er getäuscht worden sei. Die Kurden hätten ihn im Glauben gelassen, dass er nach Bagdad, in die irakische Hauptstadt, gebracht werde. Abgeschirmt und von Bundespolizisten gut bewacht, sitzt er – ungefesselt – im hinteren Teil des Fliegers.

Wiesbaden/Mainz
Im Laufe des Tages sickern immer mehr Informationen durch. Aus anfänglicher Spekulation wird Gewissheit – Ali Bashar kommt zurück. Dass Informationen bekannt werden, erklärt sich leicht: Es soll gewährleistet werden, dass die Medien bereit stehen.

Frankfurt Flughafen
Gegen 20.45 Uhr wird er von Bundespolizisten aus der Lufthansa-Maschine LH 697 geführt. Nach der Ankunft in Deutschland wird dem Iraker der Haftbefehl eröffnet. Die Bundespolizei übergibt ihn an Beamte des Spezialeinsatzkommandos der hessischen Polizei.

Wiesbaden
Ein Polizeihubschrauber bringt den Iraker von Frankfurt nach Wiesbaden ins Polizeipräsidium.

Die Ankunft am Konrad-Adenauer-Ring wird medienwirksam inszeniert und ins Bild gesetzt. Schwer bewacht wird Bashar die wenigen Meter vom Hubschrauber-Landeplatz zum Präsidium gebracht. Wie ein Top-Terrorist.
Die Bilder werden gebraucht – als Botschaft. Sie sollen zeigen – der als untätig und lasch gescholtene Staat ist stark. Der deutsche Staat kann in diesem Fall aber nur handeln, weil sich die Kurden darauf eingelassen haben. Innenminister Karim Sinjari habe die „Übergabe“ von Ali Bashar veranlasst. Später werden die Kosten für die Bundespolizei bis auf den Cent genau ausgerechnet, 38 226,14 Euro soll der Einsatz gekostet haben.

Fotos: dpa, Sascha Kopp

Der Iraker wird zu einer ersten Vernehmung bei der Polizei gebracht. Zuvor wird er rechtsmedizinisch auf Verletzungen untersucht, die den Ermittlern vielleicht Rückschlüsse geben könnten. Gibt es Spuren, die einem Tatgeschehen im Fall Susanna noch zugeordnet werden könnten?
Ali Bashar verzichtet auf einen Anwalt. Er gesteht den Ermittlern, dass er das Mädchen getötet habe. Eine Vergewaltigung bestreitet er.

Susannas Mutter wird Monate später, am 28. September 2018, auf Facebook schreiben, dass sie sich „sehr gerne persönlich bei dem Chef der Bundespolizei, Herrn Dieter Romann, bedanken“ wolle.

„Durch sein schnelles Handeln ist es ihm letztendlich gelungen, den Mörder meiner geliebten Tochter doch noch zu überführen und nach Deutschland zu bringen!“

Gegen Romann und andere an der Rückholung beteiligte Bundespolizisten läuft da längst ein Ermittlungsverfahren, anhängig bei der Staatsanwaltschaft Frankfurt. Es wurde Anzeige erstattet wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung. Das Verfahren wird 2019 eingestellt.

Tag 20 – Sonntag, 10. Juni 2018

Die richterliche Vernehmung

Wiesbaden
Ali Bashar gesteht in einer sechsstündigen Vernehmung auch gegenüber einer Haftrichterin des Wiesbadener Amtsgerichts, dass er das Mädchen getötet habe. Die Vernehmung findet im Polizeipräsidium statt. Wieder will er keinen Anwalt an seiner Seite haben. Es wird ihm in dieser Phase auch kein Pflichtverteidiger zur Seite gestellt.
Tatmotiv für das Verbrechen sei seine Angst gewesen, Susanna könne die Polizei rufen. Sie sei gestürzt, aufs Gesicht gefallen und soll deswegen geblutet haben.
Aber warum sollte Ali Bashar Angst vor der Polizei haben, wenn ein Mädchen nur gestürzt und sich dabei verletzt haben soll? Es hätte unangenehme Fragen gegeben – das ja. Aber eine bloße Sturzverletzung hätte sich schnell klären lassen können. Und warum sollte ein Mädchen wegen einer angeblich durch Ungeschick verursachten bloßen Sturzverletzung die Polizei rufen?
Die 14-Jährige, die sich rumgetrieben hatte, hätte doch viel mehr Grund gehabt, die Polizei zu meiden.
Diese Erklärung des jungen Irakers macht als Tatmotiv überhaupt keinen Sinn.
Die ihm vorgeworfene Vergewaltigung bestreitet er auch gegenüber der Haftrichterin.
Ali Bashar wird in Untersuchungshaft genommen. Er wird nach Frankfurt gebracht, in die Justizvollzugsanstalt Frankfurt I.

Foto: dpa

Tag 21 – Montag, 11. Juni 2018

Stilles Gedenken und laute Töne

Mainz

Am Montag versammeln sich zu einer stillen Gedenkstunde von DGB und evangelischer Kirche rund 150 Personen auf dem Gutenbergplatz; darunter auch Vertreter aus Landes- und Stadtpolitik. Oberbürgermeister Michael Ebling hält eine kurze Ansprache, fordert ein Zeichen der Mitmenschlichkeit und zusammenzustehen. Auch gegenüber den Versuchen, den Tod des Mädchens politisch zu instrumentalisieren. Brennende Teelichter formen Susannas Namen.

Am späten Nachmittag versammeln sich an der Heunensäule auf dem Markt rund 35 Personen zu einer Mahnwache unter dem Motto „Kandel ist überall“. Hinter der Mahnwache steht die AfD-nahe Organisation „Kandel ist überall“, die bereits im pfälzischen Kandel rechtspopulistische Demonstrationen veranstaltet hatte.  Gegen die Rechtspopulisten protestieren rund 120 Demonstranten. Protest und Gegenprotest lassen erahnen, welche gesellschaftlichen Folgen mit diesem Verbrechen verbunden sein werden.

Tag 22 – Dienstag, 12. Juni 2018

Der Abschied

Mainz
Die Beerdigung von Susanna findet auf dem jüdischen Teil des Friedhofs in Mainz statt. Es ist eine private Trauerfeier, rund 100 Trauergäste nehmen nach Schätzung der Polizei daran teil.

Foto: Sascha Kopp

Die weiteren Kapitel:


Impressum:

Autor: Wolfgang Degen
Co-Autor: Nicholas Steinberg
Redaktionelle Mitarbeit: Alexandra Maus
Grafik & Layout: Miriam Völlmecke
Chefredaktion: Stefan Schröder (verantwortlich)


Namensnennung und Fotos

Im konkreten Fall hat sich die Redaktion nach dem Abwägen zwischen dem öffentlichen Interesse und den Persönlichkeitsrechten des Angeklagten für eine identifizierende Berichterstattung entschieden: Der Name des Angeklagten wird genannt, sein Foto unverfremdet gezeigt. Dieses Vorgehen soll bis zu einer rechtskräftigen Verurteilung des jungen Mannes beibehalten werden. Die Voraussetzungen für eine zulässige identifizierende Berichterstattung sind in seinem Fall gegeben. Beim Opfer Susanna zeigen wir das Foto, so lange der Fall noch so präsent ist, nennen aber nur den Vornamen des Mädchens.