Mit welchen Herausforderungen haben Rollstuhlfahrer in der hessischen Landeshauptstadt zu kämpfen? Wir haben Konstantin Tskhviravashvili in Wiesbaden begleitet.
Eine multimediale Geschichte von Henri Solter
Wiesbaden war und ist vieles: Landeshauptstadt, mondäne Kurstadt oder auch die Stadt der heißen Quellen. Ist sie aber auch eine rollstuhlgerechte Stadt? Viel ist in den letzten Jahren passiert. Neue öffentliche und ebenerdige Toiletten wurden in der Innenstadt installiert, barrierefreie Zugänge in Ämtern geschaffen und behindertengerechter Fußgängerüberwege angelegt. Doch reicht das aus? Wir haben einen Rollstuhlfahrer in seinem normalen Alltag begleitet und fünf Orte in der Stadtmitte näher betrachtet.
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Es ist ein kalter Februarmorgen in der Wiesbadener Innenstadt. Und obwohl es bereits früh am Tag ist, sind viele Menschen in der Fußgängerzone und in den zahlreichen Nebenstraßen unterwegs. An der Bushaltestelle Kirchgasse tummeln sich zahlreiche Schüler, in der umtriebigen Neugasse sind die Cafés bereits gut gefüllt und auch in der Langgasse herrscht schon munteres Treiben vor den Geschäften. Es ist ein ganz normaler Dienstag in der hessischen Landeshauptstadt. Auch für Konstantin Tskhviravashvili.
Seinen Tag beginnt Konstantin gerne in einem der zahlreichen Cafés in der Innenstadt. So auch heute. Doch bereits im Eingangsbereich kommt es zu ersten Problemen. Ein großes Schild mit der Aufschrift „Frühstücksbuffet“ steht in unmittelbarer Nähe zur Tür. Zu nah für Konstantin, um es mit seinem breiten E-Rollstuhl umfahren zu können. Nach kurzer Nachfrage räumt der nette Kellner das Schild schnell zur Seite. Auf den ersten Blick eine Kleinigkeit. Dennoch können genau solche alltäglichen Situationen für eingeschränkte Personen unüberwindbare Hindernisse bedeuten.
”Zu wenig Menschen mit einer Behinderung gehen an die Öffentlichkeit, um auf Missstände aufmerksam zu machen. Deshalb darf man sich auch nicht beschweren, wenn wenig passiert.
Konstantin Tskhviravashvili
In Wiesbaden, wo er seit 20 Jahren lebt, fühlt sich Konstantin wohl, auch weil hier eben schon etwas passiert ist. „Die Stadt hat in den letzten Jahren einiges für die Barrierefreiheit getan. Ein großes Problem ist aber die Lage.“ Damit meint er die Topografie der Stadt. Die Wiesbadener Innenstadt liegt nämlich in einer Art Mulde, die zwischen den Taunushöhen im Norden, der Bierstadter Höhe und dem Hainerberg im Osten, dem Mosbacher Berg im Süden und dem Schiersteiner Berg im Westen eingekreist ist. Bereits der Unterschied vom Schlossplatz zum nahen Westend oder zum östlich gelegenen Moltkering beträgt weit über 20 Höhenmeter. „Mit meinem elektrischen Rollstuhl habe ich da noch Glück, für jemanden in einem normalen Rollstuhl ist das wirklich super anstrengend.“
Den Weg zur Universität legt Konstantin immer mit der Buslinie 6 zurück. Er steigt am Platz der Deutschen Einheit ein.
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Bei der Einfahrt signalisiert Konstantin per Handzeichen dem Fahrer, dass er gerne mitfahren möchte. Nachdem einige Passagiere ausgestiegen sind, ist er aber auf die Hilfe anderer Fahrgäste angewiesen. Denn er selbst hat keine Möglichkeit, die am Boden befestigte Rampe umzuklappen. „Wenn niemand hilft oder helfen kann, muss der Fahrer aussteigen.“ Heute ist das nicht notwendig, zwei junge Frauen sind hilfsbereit, klappen die Rampe schnell um und helfen Konstantin beim Einstieg. Der für ihn vorgesehene Bereich, der direkt am Einstiegsbereich an der ersten Tür liegt, wird von einem anderen Fahrgast schnell frei gemacht.
”Es kommt meist darauf an, wie voll der Bus ist. Oft ist kein Platz für mich und ich muss auf die nächste Fahrt hoffen. In vielen Fälle sind die Menschen aber hilfsbereit und machen Platz.
Konstantin Tskhviravashvili
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Auch wenn der Einstieg in den Bus ohne größere Schwierigkeiten an diesem Tag geklappt hat, ist das in Wiesbaden längst keine Selbstverständlichkeit. Gerade einmal „etwas mehr als 40 Prozent“ der Haltestellen sind laut Verkehrsdezernent Andreas Kowol (Grüne) derzeit vollständig oder weitgehend barrierefrei. Der Mobilitätsdienstleister Eswe Verkehr gab erst im Januar 2023 bekannt, dass der vollständige Ausbau noch einige Zeit dauern werde. Das steht eigentlich im Widerspruch zum derzeit noch gültigen Nahverkehrsplan. Denn laut diesem hätten bereits bis Januar 2022 alle Haltestellen barrierefrei sein sollen.
In der Wiesbadener Innenstadt hat Konstantin einige Plätze, die er bei gutem Wetter gerne aufsucht. Dazu zählt auch der Kochbrunnen. Auf dem Weg dorthin ist er meistens in der Schwalbacher Straße unterwegs. Auch hier merkt man das teilweise sehr starke Gefälle in Wiesbaden. Ohne seinen Motor würde er wohl nicht bis zum Michelsberg kommen, meint er.
Dass Konstantin aber bei den vermeintlich alltäglichsten Dingen eingeschränkt ist, zeigt sich an den Bankautomaten der Nassauischen Sparkasse in der Schwalbacher Straße. Denn hier kann er ohne Hilfe kein Bargeld abheben.
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Die Automaten sind zu weit in der Gebäudemauer platziert, wodurch er mit seinem Armen nicht nah genug an die Tasten herankommt und mit seiner Fußablage an die Mauerkante anstößt.
„Ich versuche meistens, direkt am Schalter abzuheben. Oft sind die Automaten einfach auch viel zu hoch.“ Er bekommt in vielen Fällen Unterstützung, aber eine gewisse Unabhängigkeit und Selbstbestimmung will er sich stets bewahren, erzählt er.
Unabhängigkeit ist ihm auch beim Bummeln in der Langgasse wichtig, die bereits in Sichtweite zum Kochbrunnen verläuft. Dort angekommen, genießt er die Sonne und die fortlaufende Ebenerdigkeit. „Von hier aus besuche ich gerne den Kulturpalast“. Dieser befindet sich nur einen Steinwurf in der etwas höheren Saalgasse entfernt. Über eine große Treppe ist man nicht einmal in einer Minute da. Auch Konstantin braucht im Normalfall nicht viel länger. Nur wenige Meter neben der Treppe ist eine lange Rampe in das massive Steinwerk angelegt worden. Auch diesmal kommt Konstantin weitgehend problemlos oben an, Schwierigkeiten bereitet ihm jedoch eine Sperrbarke. Diese ragt zu weit in den engen Durchgang am Ende der Rampe. Nach zwei Versuchen schafft er es, sich mit seinem Rollstuhl durchzuquetschen. Wäre die Barke ein kleines Stück weiter im Durchgang platziert worden, hätte es für Konstantin kein Durchkommen gegeben. Es sind wie so oft Kleinigkeiten und nur wenige Zentimeter, die hier den Unterschied machen.
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Zu solchen Kleinigkeiten gehören auch die Bordsteinkanten in der Stadtmitte. „In der Innenstadt sind die Kanten größtenteils gut abgesenkt. Es gibt immer einzelne Stellen, wo es mal schwieriger ist, aber meistens kommt man gut drüber.“ Auch im nahen Umfeld des Schlossplatzes. Am Landtag entlang ist der Untergrund mit Steinplatten unterlegt. Für Rollstuhlfahrer äußerst angenehm, denn hier treffen die Reifen auf wenig Widerstand. Das ändert sich dann kurz vor dem Rathaus.
”Kopfsteinpflaster ist sehr nervig für Rollstuhlfahrer. Man merkt jeden einzelnen Stein.
Konstantin Tskhviravashvili
Die breiten Reifen seines elektrischen Rollstuhls seien bei Kopfsteinpflaster ein Vorteil gegenüber den schmaleren Reifen der „normalen“ Rollstühle. Denn so werde er deutlich weniger durchgeschüttelt. Positiv empfindet Konstantin hingegen die Barrierefreiheit in den öffentlichen Gebäuden der Stadt. Nur wenige Meter neben dem offiziellen Rathauseingang können mobilitätseingeschränkte Menschen einen Aufzug in das Erdgeschoss nehmen. Auch das nahe Bürgerbüro verfügt über einen solchen.
Dass es aber an vereinzelten Stellen immer Luft nach oben gibt, zeigt die Ellenbogengasse, die direkt am Schlossplatz anliegt. Neben dem sowieso störenden Kopfsteinpflaster sind an einigen Stellen Steine aus dem Untergrund gebrochen. Hier können Rollstuhlfahrer leicht aus dem Gleichgewicht gebracht und die Räder beschädigt werden.
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Während die städtischen Einrichtungen schon viel für die Barrierefreiheit getan haben, fällt in der Innenstadt auf, dass dies im Einzelhandel längst noch nicht überall der Fall ist. Eine breitere Tür und eine Rollstuhlrampe sind längst nicht überall zu installieren und der Kostenfaktor ist hoch.
Doch empfindet Konstantin die Landeshauptstadt als rollstuhlgerecht? Er betont, dass viele Wiesbadenerinnen und Wiesbadener sehr hilfsbereit seien. Auch innerhalb der Stadtmitte käme er größtenteils gut und ohne größere Probleme zu seinem Zielort. „Grundsätzlich mache ich auch keinem Laden oder Geschäft einen Vorwurf, wenn es nicht barrierefrei ist. Vor 30 oder 50 Jahren war die Rollstuhl-Thematik einfach noch nicht so präsent.“ Konstantin verhehlt aber nicht, dass er aufgrund seiner Krankheit oft auch als geistig behindert abgestempelt werde. Viele Menschen würden dies bei seiner Erscheinung direkt annehmen. Diese Vorurteile und auch das mangelnde Bewusstsein (beispielsweise beim Schild im Eingangsbereich) sind Dinge, bei denen er noch Luft nach oben sieht. Diese Schärfung des Bewusstseins ist das, was Konstantin sich auch für die Zukunft von den Wiesbadenerinnen und Wiesbadenern, aber auch von Jedem wünschen würde. Denn eine rollstuhlgerechte Stadt beginnt im Kopf der Stadtbevölkerung.
Mitwirkende:
Redaktion: Henri Solter
Grafik und Layout: Sabine Stang
Fotos: Henri Solter, Tim Würz, dpa, romaset – stock.adobe
Videos: Henri Solter