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Ängste und Depressionen beherrschten das Leben von Juliana P. bis sie herausfand, dass das Problem nicht bei ihr liegt, sondern bei den transgenerationalen Traumata ihrer Familie.

Eine Multimedia-Story von Dominik Theis


Triggerwarnung: Im Folgenden werden Themen wie psychische Störungen, sexueller Missbrauch, psychische Gewalt, Mord und Suizid behandelt. Wenn es Ihnen mit den Themen nicht gut geht oder Sie sich selbst betroffen fühlen, kontaktieren Sie bitte umgehend die Telefonseelsorge (www.telefonseelsorge.de). Unter der kostenlosen Hotline 0800-1110111 oder 0800-1110222 erhalten Sie Hilfe von Beratern, die schon in vielen Fällen Auswege aus schwierigen Situationen aufzeigen konnten.


Es ist ein unsichtbares Band, dass Juliana P. (Name geändert) mit ihren Eltern, Großeltern und Urgroßeltern verbindet. Belastet mit Kriegsverbrechen, Folter, sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt. Das alles hat Juliana nie selbst erlebt, doch es sind die traumatischen Erlebnisse ihrer Vorfahren, die sie geerbt hat und sie einfach nicht loslassen – und fast im Suizid enden.

2008

Alles beginnt im Jahr 2008. Es ist viel los auf der Welt: Barack Obama wird der erste schwarze Präsident Amerikas, Britney Spears und die Börse brechen zusammen. Auch für Juliana steht in diesem Jahr alles auf dem Kopf: Ihr kleiner Sohn wird geboren. Ein Moment des Glücks, der in Juliana aber gleichzeitig tief verborgene Ängste zu Tage fördert. Nach der Geburt fühlt sich die junge Mutter schlecht.

„Ich habe gemerkt, dass ich mein Kind nicht so lieben kann, wie ich es erwartet habe.“

Juliana P.
nach der Geburt ihres Kindes

Juliana denkt zunächst, dass es sich um eine postpartale Depression handelt, was nicht unüblich gewesen wäre, denn laut der Deutschen Depressionshilfe leiden zehn bis 15 Prozent aller Frauen nach der Geburt darunter. Doch hinter dem depressiven Verhalten steckt etwas anderes, was sie allerdings erst vier Jahre später herausfindet.

2012

Juliana ist an ihrem psychischen Tiefpunkt angelangt. Die Depressionen wirken so unerträglich, dass sie an Selbstmord denkt. Jeglicher sozialer Kontakt ist für sie eine Horrorvorstellung. „Ich konnte das Haus nicht verlassen. Einen Arzttermin für mich per Telefon auszumachen war unmöglich. An der Kasse stehen und bezahlen, das war für mich ein Schreckensszenario“, blickt die mittlerweile Mitte 30-Jährige aus Mittelhessen zurück. Zu den sozialen gesellen sich auch noch gesundheitliche Ängste. Sie erkennt, dass sie psychisch krank ist und begibt sich in eine psychiatrische Einrichtung. Der Ort, an dem ihr wenig später vieles klar wird.

„Ich bin nicht unbedingt das Problem, sondern die Vergangenheit meiner Familie.“

Juliana P.
über die Erkenntnis ihrer ersten Therapie

Zusammen mit ihren Therapeuten arbeitet Juliana ihre Verhaltensweisen und deren Ursprünge auf. Ein Teil dessen ist es, auf die Verhaltensweisen und Lebensgeschichten ihrer Vorgänger-Generationen zu schauen. Dabei stößt sie auf einige Erlebnisse, die aus ihrer Sicht für ihre Vorfahren traumatisch gewesen sein müssen.

Der Stammbaum von Julianas Familie

Klicken Sie auf die einzelnen Symbole des Stammbaums, um zu erfahren, was in Julianas Familie vorgefallen ist. Beginnen Sie bei Juliana ganz unten (gelber Button).

Reihenweise Erlebnisse, die für Juliana eine Gemeinsamkeit haben: Um alle wurde in ihrer Familie größtenteils der Mantel des Schweigens gehüllt.

Nur „harmlosere Dinge“ wurden erzählt. Wenn sie und ihre Geschwister in der Vergangenheit mal nachbohrten, wurde die Atmosphäre direkt steif und still, erzählt sie.

Im Laufe der Therapie verfestigt sich bei Julianas Therapeuten ein eindeutiges Bild: Hier handelt es sich um transgenerationale Traumata (TGT). Dabei geht es um traumatische Erlebnisse (z. B. Kriegserfahrung), die von den Betroffenen nie richtig aufgearbeitet wurden und über Verhaltensweisen (die aus den traumatischen Erlebnissen resultieren) an die nächsten Generationen weitergegeben werden.

Um mehr über die Bedeutung eines transgenerationalen Traumas zu erfahren, klicken Sie auf das Bild.

Diese Traumata und die daraus folgenden Verhaltensweisen der ersten Generation können bei der zweiten und jeder weiteren Generation zu Stressanfälligkeit, Angststörungen, Depressionen, sozialem Rückzug und Albträumen führen, wenn die Verhaltensweisen nicht aufgearbeitet werden. Doch wie genau kommt es zur Weitergabe?

Wie funktioniert die transgenerationale Weitergabe?

Die „Vererbung“ solcher Traumata und der daraus entstandenen Verhaltensweisen erfolgt der Wissenschaft nach vor allem über zwei Wege: psychisch-emotional und genetisch. Psychotherapeut Dr. Nicolas Schetelig aus Wetzlar erklärt, was es damit auf sich hat.

Eine genauere Auflösung der Übertragungswege finden Sie hier. Mit einem Klick auf das Plus-Symbol (+) jeweils neben den Überbegriffen öffnen sich die Beschreibungen dazu.

Epigenetische Veränderungen

  • Durch Traumata kann es zur Veränderung der DNA-Ablesbarkeit kommen.
  • Diese epigenetischen Veränderungen können bereits im Mutterleib erfolgen und etwa zu einer Veränderung der Stressresistenz führen.
  • Bei traumatischen Erlebnissen und Angstsituationen verändern sich bestimmte Marker am genetischen Material – Anlagerungen, die Gene aktiv oder passiv schalten.
  • Daher kann es sein, dass bei Familien mit mehreren Kindern sich das Trauma nicht auf alle Kinder überträgt, weil die gewisse Anlagerung beim einen Kind aktiv geschaltet ist, beim anderen jedoch passiv.

Erziehung, Interaktionen, Bindungserfahrungen

  • Verhaltensweisen, die aufgrund von Traumata entstehen, können über die Erziehung an die Folgegenerationen weitergegeben werden.
  • Werte und Regeln innerhalb einer Familie können auch als Folge von Traumata weitergegeben werden.
  • Bindungserfahrungen: Sowohl sehr enge als auch sehr distanzierte Beziehungen zu traumatisierten Personen können dazu führen, dass Traumata über die emotionale Ebene weitergegeben werden.

Explizite Erzählungen

  • Auch über Erzählungen von Person zu Person oder aufgeschriebene Geschichten von Familienangehörigen können Traumata weitergegeben werden.

Implizite Erzählungen

  • Familiengeheimnisse und -tabus zählen dazu.
  • Häufig herrscht in Familien ein „konspiratives Schweigen“ über Traumatisches, um die Personen nicht zu überfordern.
  • Für Juliana und ihre Geschwister war klar, dass sie über Familiengeheimnisse in der Schule und sonst mit Freunden nicht sprechen durften.

Wie kann man mit transgenerationalen Traumata umgehen?

Als Julianas Therapeuten ihr erstmals sagen, dass es sich in ihrem Fall um transgenerationale Traumata handeln könne, entwickeln sich ambivalente Gefühle in ihr. Sie ist einerseits erleichtert, eine Erklärung für ihre Symptome zu haben, doch gleichzeitig denkt sie: „Na toll, wenn ich nicht das Problem bin, wie löse ich das dann jetzt? Trage ich diesen Stempel nun mein ganzes Leben lang mit mir herum?“

„Ich möchte den Mantel des Schweigens aufbrechen.“

Juliana P.

Doch je länger die Therapie dauert, desto klarer wurde Juliana: „Ich kann die Vergangenheit meiner Familie nicht verändern, aber die Art und Weise, wie ich damit umgehe.“ Sie entwickelt eine Mission: Sie möchte den Mantel des Schweigens öffnen und die Verhaltensmuster ihrer Familie aufbrechen, denn eines schwört sich Juliana: Ihr Sohn soll sich nicht mehr mit diesen Problemen herumschlagen.

Klicken Sie auf die Karte, um zu erfahren, was eine gute Lösung im Umgang mit vererbten Traumata ist.

Um mit den transgenerationalen Traumata klarzukommen, setzt Juliana neben der Ahnenforschung auch auf Kommunikation. Sie spricht mit ihrer Mutter weiter über die Geschehnisse in der Familie, sucht nach Akten und Büchern, in denen sie etwas über ihre Vorfahren erfahren kann. Für Juliana ist diese Form der Ahnenforschung ein Weg, um die weitergegebenen Verhaltensweisen einzuordnen und mit ihnen klarzukommen.

Dr. Nicolas Schetelig

Psychotherapeut aus Wetzlar

Mithilfe von Psychotherapie kann es gelingen, die Kette der Traumatisierungen zu durchbrechen.

Dr. Schetelig hat einen Rat: „Eltern, die bemerken, dass sie eigene Belastungen an ihre Kinder weitergegeben haben, können ihnen bereits damit helfen, dass sie offen über diesen Umstand sprechen und ihren Kindern ihre Emotionen in Bezug auf das Erlebte erlauben.“ Wenn Eltern gegenüber ihren Kindern anerkennen würden, dass sie nicht immer in der Lage waren, die Kinder bedürfnisgerecht zu versorgen, würde dies vielen Betroffenen deutlich erleichtern, in der Psychotherapie die notwendigen Schritte zu gehen, erklärt der Psychotherapeut. Das helfe dann auch die Beziehungen zwischen den Generationen zu entlasten und zu erhalten.

Mit Blick auf die Verantwortung für die eigenen Kinder sei es auch für werdende Eltern und Eltern von heranwachsenden Kindern sinnvoll, sich mit der eigenen Vergangenheit und den eigenen Verletzungen zu beschäftigen. Denn so könnten Eltern dazu beitragen, ihre Kinder weniger mit dem eigenen Leid zu belasten.

In den Augen Scheteligs ist es auch eine gesellschaftliche Frage, wie wir uns um die Betroffenen kümmern wollen und wie wichtig es uns ist, die Kette der Traumatisierungen zu durchbrechen.

2023

Das Leben mit den Traumata heute

Zu Betroffenen, die traumatisiert werden können, zählen auch Täter – und nicht nur Opfer. Einer dieser Täter in der Familie war Julianas Großvater väterlicherseits. Noch heute kommen in ihr Bilder ihrer Vorfahren hoch, vor allem von der Familie ihres Vaters. Ihr fällt es schwer, die Dinge, die ihr Großvater (sexueller Missbrauch, Gewalt) getan hat, von ihrem eigenen Leben abzugrenzen.

„Mir kommt es oft so vor, als hätte ich die schlimmen Dinge, die er getan hat, selbst erlebt.“

Juliana P.
über die Flashbacks im Alltag

Juliana habe häufig das ungute Gefühl, selbst missbraucht worden zu sein, obwohl sie zu 100 Prozent wisse, dass ihr Vater ihr so etwas nie angetan hat. „Meine Erinnerungen vermischen sich auf sehr unangenehme Weise mit den Geschichten, die ich kenne.“

Juliana wird weiter in der Vergangenheit suchen

Die junge Frau möchte noch mehr über ihre Familiengeschichte herausfinden. „Bei meiner Ahnenforschung im Stammbaum auf der Seite meiner Mutter bin ich bis ins 16. Jahrhundert gekommen. Auf der Seite meines Vaters liegt allerdings noch viel im Dunkeln. Da möchte ich ansetzen.“ Denn dieser Teil ihrer Familiengeschichte bereite ihr heute noch die größten Schwierigkeiten.

Dennoch wirkt Juliana zufrieden mit ihrem Heilungsverlauf. „Ich nehme die Angst wahr, aber ich versuche sie nicht mehr zu verdrängen, sondern zu kontrollieren. Das gelingt mir nur, weil ich weiß, woher die Ängste kommen.“ Vor allem die Schematherapie helfe ihr, einen „Werkzeugkasten“ an Verhaltens- und Denkweisen zu erlernen, der ihr im alltäglichen Umgang mit den krankhaften Mustern hilft.

Dies sei laut Dr. Schetelig auch deshalb wichtig, weil man die Erfahrungen nicht löschen könne. Aber die Psychotherapie könne dazu beitragen, einen gesunden Umgang mit den eigenen Emotionen und verletzten Bedürfnissen zu entwickeln, sodass sich quälende Ängste, Wut oder Traurigkeiten beruhigen könnten. So sei es möglich, wieder eine „psychische Flexibilität zu erreichen, die ein selbstbestimmtes Leben in gesunden Beziehungen ermöglicht.

„Die Traumata werden immer ein Teil von mir bleiben.“

Juliana P.
auf die Frage, ob die transgenerationalen Traumata ihre Psyche jemals verlassen werden.

Auch Juliana glaubt, dass sie die Traumafolgen ihrer Vorfahren nicht mehr ganz los werde, doch die Intensität des krankhaften Verhaltens werde sich verändern. „Mein Therapeut hat mal einen Vergleich mit einer Wunde gemacht, den ich ganz passend fand: Eine tiefe Wunde wird irgendwann nicht mehr bluten, sie braucht irgendwann keinen Verband mehr, aber die Narbe bleibt für immer. Und manchmal tut sie weh, wenn sich das Wetter ändert. So empfinde ich das mit dem transgenerationalen Trauma auch. Es tut irgendwann nicht mehr weh, aber wenn sich die Stimmung ändert, kann es ziepen.“

Mitwirkende:


Autor: Dominik Theis
Grafik und Layout: Sabine Stang und Dominik Theis
Fotos/Illustrationen: Isuru Pic, Lazy_Bear, Make_story Studio, tiagozr, yavdat, Photobank, Lumezia.com, fizkes, Ilia – adobe.stock, kat smith – pexels, Freepic, Becirs, smalllikeart, M Karruly – Flaticon