Er galt als politisches Naturtalent und Wunderkind. Bald steht er vor Gericht. Der Aufstieg und Fall des Marcus Held.
Von Kirsten Strasser und Ulrich Gerecke
Prolog: Der Aufstieg des Marcus H.
Mit 26 Jahren war er jüngster Bürgermeister Deutschlands, mit 36 saß er bereits im Deutschen Bundestag. Der SPD-Politiker Marcus Held galt lange als Hoffnungsträger seiner Partei, als politischer Wunderknabe Rheinhessens, der schon früh wusste, wo er hinwollte – nämlich hoch hinaus. Mit seinem Ehrgeiz und seinem Fleiß, mit seinen jovialen Umgangsformen und seinem Selbstbewusstsein kletterte er Sprosse um Sprosse die Karriereleiter hoch, Marcus Held beackerte im Land der Reben und Rüben das weite Feld der Kommunalpolitik, bis ihm der Sprung aus der rheinhessischen Provinz ins große Berlin gelang. Und auch der Sitz im Bundestag sollte, so hieß es, nur eine Etappe sein, noch höher sollte es gehen. Dann kam der tiefe Fall: Wegen Untreue- und Betrugsvorwürfen verlor Held alle kommunalen Ämter; in Kürze soll er vor Gericht gestellt werden. Es ist das Ende einer Karriere, die so hoffnungsvoll begann.
Es gibt einen Schnappschuss aus dem Jahr 1991, von einem Weinfest im pfälzischen Grünstadt. Auf dem Foto ist ein gewisser Rudolf Scharping zu sehen. Hemdsärmelig und gut gelaunt prostet der rheinland-pfälzische Ministerpräsident einigen Weinmajestäten zu. Neben dem Landesvater steht ein Bub, mit hellbraunen Haaren und blauer Sonnenbrille, der selbstbewusst in die Kamera strahlt. Wer genau hinsieht, erkennt in dem Kerlchen den jungen Marcus Held. Schon im zarten Alter von 13 Jahren sucht er die Nähe der Mächtigen.
Denn er will ja selbst einer werden – ein Mann, der Macht hat. Und er bekommt sie. Mit 26 Jahren wird Marcus Held, der rheinhessische SPD-Shootingstar, zum jüngsten Bürgermeister Deutschlands gewählt. Fortan regiert er in „seinem“ Oppenheim, dem Städtchen, in dem er sich für höhere Aufgaben empfiehlt. Denn es gibt, so scheint es, kein Problem, das „de Maggus“, wie ihn die Oppenheimer gerne nennen, nicht lösen kann. Heimatlose Zirkuselefanten, die in der Kleinstadt am Rhein gestrandet sind? Kein Problem, Held hilft. Die Baugebiete werden knapp? Held lässt ein neues ausweisen. Die nächste Bürgermeisterwahl steht an? Da kommt ein Marcus Held erst so richtig auf Touren, verteilt körbeweise rote Rosen an die Damen, und für die Kinder gibt’s Brotdosen in strahlendem SPD-Rot.
Die SPD ist seine Partei, und auf ihrem Ticket gelangt er 2013 nach Berlin, als Bundestagsabgeordneter. Als Direktkandidat hat er seinen Wahlkreis, der die Stadt Worms, den Landkreis Alzey-Worms und Teile des Kreises Mainz-Bingen umfasst, zwar verloren, er zieht jedoch über die Landesliste in den Bundestag ein. Und er bringt – nicht nur – Berliner Glanz ins kleine Oppenheim, schlägt Klaus Wowereit, Malu Dreyer, Kardinal Lehmann und Gregor Gysi zu „Oppenheimer Weinrittern“. Noch immer umgibt er sich gerne mit Mächtigen. Marcus Held, der als Jungspund einst erfolgreichen Politikern wie Klaus Hagemann die Aktentasche trug – heute ist er selbst einer.
Hier ein Schnappschuss mit einem Bundespolitiker, da ein Selfie mit einem Promi. Marcus Held umgibt und zeigt sich gerne mit bekannten Persönlichkeiten.
Kapitel 1: Das anonyme Dossier
Kapitel 1: Das anonyme Dossier
Alles beginnt mit einem 18-seitigen Schreiben, das Mitte Februar 2017 im Rhein-Main-Gebiet auftaucht. Zeitungen, Rundfunksender, Journalisten bekommen das vom Verfasser als „Memorandum“ titulierte Werk nebst einem dicken Bündel Dokumenten, auch die Staatsanwaltschaften in Mainz und Koblenz und der Landesrechnungshof in Speyer werden bedacht. Und ja, auch Marcus Held findet im Rathaus von Oppenheim ein Exemplar in der Post.
”Die Kommune wird von Amtsträger Held in dubiose vertragliche Verflechtungen gezogen, [sie] ... zahlt, erhält aber keine adäquate Gegenleistung. Es profitiert das politische Umfeld Helds und/oder Held persönlich.
AnonymusVerfasser des Memorandums vom 9. Februar 2017
Dass der Inhalt brisant ist, wird schon in der dritten Zeile klar: „Der zu Tage tretende Sachverhalt ist strafrechtlich relevant.“ Was folgt, ist ein ganzes Kaleidoskop von Korruptionsvorwürfen. Anhand von Verträgen, Summen und Namen erläutert der Autor – höchstwahrscheinlich ein Jurist, sicher ein Mensch mit tiefsten Insiderkenntnissen über Oppenheim -, dass Held beim Bau des Neubaugebietes Krämereck Süd zum Schaden seiner Stadt gehandelt habe: Er soll bei Grundstücksgeschäften örtliche Makler beauftragt und Courtagen veranlasst haben, obwohl es dafür keinen Grund gab. Das böse Wort der „Kickback“-Zahlungen steht an mehreren Stellen, von Untreue und Subventionsbetrug ist die Rede.
”Im Raum steht (wenngleich noch nicht belegt und daher noch aufzuklären): Aus den nicht gerechtfertigten Provisionszahlungen könnten Rückflüsse (sog. Kick-backs) in Richtung der SPD Oppenheim und/oder sogar der Person Held gespeist worden sein.
AnoynmusVerfasser des Memorandums vom 9. Februar 2017
Hinzu kommen weitere Beispiele für „Scheingeschäfte, Quersubventionen, Annahme von Vorteilen“. Held habe überall Gefolgsleute platziert, Bekannten bei Grundstücksdeals geholfen, krumme Geschäfte mit Autos betrieben. Es gehe um umfassende Verflechtungen und Gefälligkeiten, mit denen Held die ganze Stadt überzogen habe. „Alle hier erörterten Sachverhaltskomplexe zeigen ein System.“ Starker Tobak! Die Saat für einen Skandal ist gelegt.
Anonymus
Ganz Oppenheim rätselt: Wer hat die brisanten Informationen über Marcus Held zusammengetragen? Und wer hat ihm dabei geholfen? Die Spekulationen schießen schnell ins Kraut. Relativ klar ist, dass es ein Insider mit großer Orts- und juristischer Fachkenntnis sein muss, der seine Belege direkt aus der Verwaltung der Verbandsgemeinde Rhein-Selz bekommt. Held und die örtliche SPD machen die lokale CDU verantwortlich, im Herbst 2017 nennt der SPD-Strippenzieher Michael Reitzel, Fraktionsvorsitzender im Verbandsgemeinderat Rhein-Selz, sogar Namen von Verdächtigen. Trotz Anzeige gegen Unbekannt wegen Geheimnisverrats und Verletzung des Datenschutzes werden der oder die Verfasser nie gefunden. Am 12. Juli 2019 stellt die Staatsanwaltschaft Mainz das Verfahren gegen den anonymen Whistleblower ein.
Werfen Sie an dieser Stelle einen ungefilterten Blick in das „Memorandum“.
Kapitel 2: Der König von Oppenheim
Kapitel 2: Der König von Oppenheim
Stadtrundgang mit Ulrich Gerecke
Willkommen in Oppenheim, willkommen im Reich des Marcus Held. Gehen Sie mit uns auf einen virtuellen Rundgang durch die rheinhessische Kleinstadt und folgen sie uns zu den Schauplätzen der „Causa Held“. Aber Achtung: Es geht um viel Geld, Miss- und Vetternwirtschaft, Demonstrationen und politische Intrigenspiele. Also bitte anschnallen!
Rathaus
Hier haben Bürger ab dem 8. Januar 2018 jeden Montagabend für den Rücktritt von Marcus Held demonstriert – mal 80, mal 150. Die vom örtlichen Winzer Axel Dahlem organisierten Kundgebungen haben den Oppenheim-Skandal überregional bekannt gemacht. Medienvertreter aus ganz Rheinland-Pfalz und darüber hinaus pilgerten nach Oppenheim, um jenes rheinhessische Dorf der Unbeugsamen zu erleben, in dem Bürger gegen ihren Bürgermeister auf die Straße gingen.
Rondo
Im Oppenheimer Gewerbegebiet liegt der Verwaltungssitz der Verbandsgemeinde Rhein-Selz. Die VG ist so etwas wie die „Schreibstube“ und erste Kontrollinstanz der Stadt Oppenheim. Kontrolliert wurde hier aber jahrelang nichts. VG-Bürgermeister Klaus Penzer (SPD) sah dem Treiben seines Parteigenossen Marcus Held tatenlos zu oder deckte es gar. Dafür geriet auch er ins Visier von Rechnungshof und Staatsanwaltschaft. Penzer wehrte sich auf seine Weise: Er erstattete Anzeige gegen den Whistleblower, der Verwaltungsinterna herausgab. Er ließ den Ratssaal auf Abhörwanzen untersuchen, weil dauernd Interna an die Presse sickerten. Er verdächtigte sogar seinen Stellvertreter, den Ersten Beigeordneten Michael Stork (CDU), des Geheimnisverrats. Am Ende ging alles aus wie das Hornberger Schießen: Die Verfahren gegen Penzer und den Whistleblower wurden eingestellt. Was blieb, ist der politische Flurschaden.
GWG
Die örtliche gemeinnützige Wohnungsbaugenossenschaft GWG steht als Sinnbild für Marcus Helds Miss- und Günstlingswirtschaft. Rund 250 Sozialwohnungen besitzt die GWG, zudem baute ihre hundertprozentige Tochterfirma HGO GmbH in Oppenheim zahlreiche Wohnungen. Dabei versickerte jedoch immer wieder Geld, die HGO meldete im September 2018 Insolvenz an und zerrte ihre „Mutter“ GWG damit in eine finanzielle Schieflage, mit der sie bis heute kämpft. Was das alles mit Held zu tun? Der war in seiner Glanzzeit gleichzeitig Stadtbürgermeister, GWG-Vorstandsvorsitzender und HGO-Geschäftsführer, platzierte seine Gefolgsleute in Gremien beider Firmen. Ein Lehrstück in Ämterhäufung und Vetternwirtschaft – mit bösen Spätfolgen.
Krämereck
Das Neubaugebiet im Süden Oppenheims spielt im Prozess gegen Marcus Held die zentrale Rolle. Um hier Wohnungen und Gewerbe sowie die Shoppingmeile „Landskrongalerie“ anzusiedeln, kaufte die Stadt unter Held zahlreiche Grundstücke auf und veräußerte diese an einen Investor. Dafür schaltete Held ein Maklerbüro ein und zahlte Courtagen – und genau das geschah nach Ansicht der Staatsanwaltschaft ohne Rechtsgrundlage. Weil das Maklerbüro und dessen Umfeld zugleich fleißig an Helds örtliche SPD spendete, steht nun der Verdacht der Untreue, Bestechung und Bestechlichkeit sowie Vorteilsannahme im Raum, eventuell sogar ein Verstoß gegen Parteispenden-Regeln. Der Schaden für die Stadt Oppenheim liegt ordentlich im sechsstelligen Bereich.
Gradinger
Eine Brachfläche in der Oppenheimer Vorstadt, die ebenfalls viel mit der Causa Marcus Held zu tun hat. Hier stand bis Anfang 2018 das frühere Möbelhaus Gradinger, der hässliche Klotz sollte längst Wohnbebauung weichen. Stadtbürgermeister Held schloss mit dem Geschäftsführer der Baufirma HGO GmbH, Held, einen Vertrag – also mit sich selbst. Die Stadt wollte die Fläche für 1,8 Millionen Euro verkaufen, die HGO sollte sie entwickeln. Die HGO ging insolvent, die Stadt blieb lange auf den Abrisskosten sitzen, hat erst kürzlich einen neuen Investor gefunden. Pikante Details dazu: Am ersten Vertrag war die Maklerfirma beteiligt, in dem die Ehefrau von Helds Amtsvorgänger Erich Menger arbeitet. Und die Abrissfirma, die Gradinger platt machte, spendete 5000 Euro an Helds Oppenheimer SPD. Ein Schelm, der Böses dabei denkt.
Zoar-Gebäude
Diese Gewerbeimmobilie brachte Marcus Held im Februar 2018 zu Fall. Die Kurzfassung: Ende 2015 kaufte Held das leerstehende Haus für 367.000 Euro und veräußerte es im August 2016 für 747.500 Euro an das Evangelische Diakoniewerk Zoar. Held wusste schon lange, dass Zoar in Oppenheim eine Immobilie für eine Behinderten-Wohngruppe suchte. Den Deal fädelte er als Privatperson ein, nicht in seiner Funktion als Chef der Wohungsbaugenossenschaft GWG. Den Stadtrat ließ der Bürgermeister im Dunkeln, als dieser aus dem Gewerbegebiet ein Mischgebiet machte und so den Weg frei machte. Als die örtliche Zeitung der VRM-Gruppe den Deal am 26. Februar 2018 publik machte, brachen für Held alle Dämme. Fast 280.000 Euro Gewinn durch Einsatz seines Insiderwissens – da gingen auch die letzten Getreuen von der Stange. 48 Stunden später trat Held als Bürgermeister zurück. Juristisch hat er für den Deal zwar nichts zu befürchten, politisch bedeutete er sein Karriereende.
SPD-Geschäftsstelle
Direkt am Marktplatz, wo gegen Marcus Held demonstriert wurde, liegt noch heute das Bürgerbüro der örtlichen SPD, von dem aus der Stadtbürgermeister jahrelang in Oppenheim die Fäden zog. Zeitweise zählte der Ortsverband über 300 Mitglieder, die Bundes-SPD ehrte ihn sogar als einen ihren wachstumsstärksten in Deutschland. Böse Zungen behaupten, das lag vor allem daran, dass jeder, der in Oppenheim etwas werden oder bewegen wollte, von Held & Co. zur Mitgliedschaft genötigt wurde. Mit dem Ende Helds setzte eine Austrittswelle ein. Mit seinem Erbe schlagen sich die lokalen Genossen heute noch herum. Die räumliche Nähe zeigt: In Oppenheim prallten Gegensätze unmittelbar aufeinander.
Helds früheres Wohnhaus
Hier in der Altstadt hatte der Stadtbürgermeister und Bundestagsabgeordnete Marcus Held bis Anfang 2018 mit seiner Familie seinen Wohnsitz. Die Farben erinnern an die örtlichen Wohnungsgesellschaften GWG und HGO, was in der Stadt manchen bösen Verdacht auslöste. In Oppenheim ist Held nach seinem Rücktritt nie mehr öffentlich in Erscheinung getreten, er wohnt dem Vernehmen nach jetzt mit seiner Frau und den beiden Töchtern in Berlin. Irritiert nahmen die Oppenheimer im Sommer 2019 zur Kenntnis, dass das Haus im Internet angeboten wird – für 1,4 Millionen Euro. Held brauche das Geld wohl für seine teuren Anwälte, ätzten die Einheimischen. Mittlerweile ist das Anwesen offensichtlich verkauft.
Die Videobeiträge wurden zu einem Zeitpunkt gedreht, als der Prozessauftakt noch für den 2. März terminiert war. Der Beginn der Hauptverhandlung ist mittlerweile für den 4. Mai angesetzt.
Kapitel 3: Held im Angriffsmodus
Kapitel 3: Held im Angriffsmodus
Ein paar Wochen nach dem Auftauchen des Dossiers passiert erst einmal nichts. In Hintergrundgesprächen erläutert Marcus Held Journalisten die Dokumente, sogar am Fastnachtssamstag – während halb Oppenheim auf dem Umzug im benachbarten Dienheim schunkelt – gibt er in seinem Dienstzimmer im Rathaus Auskunft. Doch langsam dämmert ihm, dass sich das unappetitliche Thema auf Dauer nicht unter der Decke halten lässt. Also entschließt er sich für eine Taktik, die er für das kommende Jahr bis zu seinem Abgang beibehält – er geht zum Gegenangriff über. Abteilung Attacke!
Am 28. März 2017 macht Held den Vorgang selbst im Gespräch mit den Zeitungen der VRM-Gruppe öffentlich. Er will den Ton setzen, das Narrativ bestimmen. „Jemand will mich zerstören“, lautet sein Credo. Es handele sich bei dem Dossier um ein finsteres Machwerk von Neidern, die ihm in einem sensiblen Moment – die SPD stellt gerade ihre Landesliste für die Bundestagswahl im Herbst auf – vors Schienbein treten will.
Auch in seiner Argumentation bleibt sich Held von Anfang bis Ende treu. Sie lautet: 1. Juristisch war alles sauber. 2. Ich habe mich nie persönlich bereichert. 3. Ich tat alles nur für das Wohl meiner Stadt Oppenheim. 4. Niemandem ist ein Schaden entstanden. Und 5. Der eigentliche Skandal ist doch, dass irgendjemand in der Verbandsgemeindeverwaltung Rhein-Selz interne Oppenheimer Akten durchsticht.
Bei seiner Klientel – der ihm treu ergebenen SPD und der örtlichen CDU, die trotz absoluter Rot-Mehrheit im Stadtrat in eine Koalition eingebunden ist – verfängt Helds Taktik zunächst. Doch es regt sich Widerstand. In der Bürgerschaft, in einzelnen Leserbriefen, in Gesprächen hinter vorgehaltener Hand, vor allem aber in der Alternativen Liste (AL). Die einzige Oppositionspartei sieht das „System Held“, um das es bald geht, schon lange kritisch und hat auch das Neubaugebiet Krämereck Süd immer kritisch gesehen. Jetzt ist das Thema auf dem Markt. Die Büchse der Pandora steht offen.
Klicken Sie auf sein Bild und erfahren Sie mehr über die Rolle von VG-Bürgermeister Klaus Penzer.
Kapitel 4: Der Druck steigt
Kapitel 4: Der Druck steigt
Mitten im Sommer, wenn Oppenheim sich normalerweise auf sein Weinfest freut, wird es für Marcus Held richtig ungemütlich. Am 14. Juni 2017 meldet sich der Landesrechnungshof bei der Mainzer Staatsanwaltschaft mit einem Zwischenbericht. Seine Prüfung kommt zu dem Ergebnis: Es gibt Anhaltspunkte für Straftaten. Die Leitende Oberstaatsanwältin Andrea Keller kommt zum selben Schluss: Am 11. Juli 2017 leitet sie offiziell ein Ermittlungsverfahren gegen MdB Marcus Robert Held ein.
Die Ermittler, die im November 2017 auch das Oppenheimer Rathaus durchsuchen und Akten beschlagnahmen, interessiert dabei vor allem eine Frage: Hat Held bei den Grundstücksgeschäften im Krämereck Süd ohne Not befreundete Makler eingeschaltet und dafür im Gegenzug Spenden für die örtliche SPD eingenommen? Geht es also um Untreue, Betrug, Bestechlichkeit zu Lasten der Stadtkasse? Genau das sagt die Staatsanwaltschaft am Ende nach zwei Jahren Ermittlungen: Rund 200.000 Euro Maklercourtage seien von 2013 bis 2017 zu Unrecht aus der klammen Stadtkasse geflossen, im Gegenzug hätten die Makler zugesagt, zehn Prozent davon an Helds SPD-Ortsverein Oppenheim zu spenden. Am Ende habe Held aus diesem dunklen Geschäft 24.600 Euro erhalten, die er im Bundestagswahlkampf verpulvern konnte.
Während diese Frage ab 4. Mai 2021 vor dem Mainzer Landgericht geklärt wird (der Prozess wurde auf Antrag der Verteidigung pandemiebedingt zweimal verschoben), wird im Sommer 2017 aus dem Grundstück-Streit ganz schnell ein Grundsatz-Streit. Das ganze „System Held“ steht am Pranger, seine Verflechtungen, Vettern- und Günstlingswirtschaft, seine politischen Winkelzüge.
”Da es sich um ein sehr aufwendiges Verfahren handelt, ist dies indes keine Frage von Tagen oder wenigen Wochen.
Andrea KellerOberstaatsanwältin Mainz
Offene Fragen:
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WARUM fließen die Touristen-Eintrittsgelder aus dem berühmten Kellerlabyrinth nicht in die Stadtkasse, sondern an die Oppenheim Tourismus GmbH – ein Privatunternehmen, gespickt mit Held-Anhängern?
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WARUM fließen die Parkgebühren in der Altstadt nicht in die Stadtkasse, sondern an die Deutsche Verkehrswacht GmbH, die der Stadt mal einen Parkplatz gebaut hat, dessen Sinnhaftigkeit viele Oppenheimer längst bezweifeln?
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WARUM sind in der städtischen Wohnungsgenossenschaft GWG (Vorstandsvorsitzender: Marcus Held) und ihrer Tochterfirma HGO GmbH (Geschäftsführer: Marcus Held) fast alle Posten mit SPD-Genossen besetzt?
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WARUM gehen praktisch alle Bauaufträge der Stadt Oppenheim an die Mainzer Hebau GmbH?
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WARUM gehen praktisch alle Planungsaufträge der Stadt Oppenheim an das Büro „planGUT“ des Held-Parteifreundes Rudolf Baumgarten, der ebenfalls als Spender für die SPD aktenkundig ist?
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WARUM zahlt die Verbandsgemeinde Rhein-Selz 600 Euro im Monat an Held für dessen Arbeit als „Beauftragter für das Hallenbad der VG“, wo er sich doch eh um die Anlage in seiner Stadt kümmern müsste?
Das alles in einer Stadt mit einem chronischen Schuldenstand in locker zweistelliger Millionenhöhe.
Zudem wird im Sommer und Herbst immer deutlicher, wie tief gespalten Oppenheim längst ist – in die Anhänger Helds und seine Gegner. Oder: in die, die dazugehören, und jene, die nicht dazugehören. Merkwürdige Geschichten machen auf einmal die Runde. Vom örtlichen CDU-Politiker, bei dem das im Garten platzierte Kinderplanschbecken plötzlich über Nacht aufgeschlitzt wird. Von einem erklärten Held-Kritiker, der an seinem Wagen zerstochene Reifen entdeckt. Oder anderen, bei denen die Ladung auf dem Anhänger plötzlich nicht mehr fest sitzt. Das Klima in Oppenheim, es ist vergiftet.
”Dieses Kesseltreiben richtet sich ganz allein gegen mich als Person. Das kommt von einer ganz kleinen Gruppe in Oppenheim, die mich hasst.
Marcus Held im Mai 2017
Im Jahr 2016 beschließt der Oppenheimer Stadtrat mit den Stimmen von Marcus Helds SPD sowie der CDU (gegen das Votum der AL) die Entwicklung des Neubaugebiets Krämereck Süd im Südosten der Stadt. Entstehen sollen ein schmales Wohngebiet, ein Gewerbegebiet sowie dazwischen die Shopping Mall „Landskrongalerie“. Held & Co. erhoffen sich weitere Steuereinnahmen für die chronisch klamme Stadtkasse. Kritiker warnen vor weiterer Flächenversiegelung und befürchten, dass die „Landskrongalerie“ keine zusätzliche Kaufkraft bringt, sondern das alte Gewerbegebiet westlich der B9 ausbluten lässt. Die „Landskrongalerie“ eröffnet im Oktober 2017, das Gewerbegebiet ist Anfang 2021 fast komplett erschlossen.
Ein „Glücksfall für Oppenheim“ oder einer der größten Profiteure des „Systems Held“? Klicken Sie auf sein Bild und erfahren Sie mehr über Rudolf Baumgarten.
Das Neubaugebiet Krämereck Süd ohne und mit „Landskrongalerie“
Mein lieber Schieber – hier ist wirklich viel geschoben worden, auf allen Ebenen. Und am Schluss stand da ein ausgewachsenes Einkaufszentrum auf der grünen Wiese. Schieben Sie also mit und bewegen Sie den Regler, um den Vorher-Nachher-Effekt zu genießen.
Kapitel 5: Und trotz allem ...
Kapitel 5: Und trotz allem ...
Im Jahr 2016 sitzt Marcus Held seit drei Jahren als Abgeordneter im Deutschen Bundestag – und da will er auch bleiben. Doch dazu braucht er einen sicheren Listenplatz, denn die Chancen, den Wahlkreis 206 direkt zu gewinnen, sind denkbar gering. Man erinnere sich: 2013 hatte Held das Direktmandat an seinen CDU-Konkurrenten Jan Metzler klar verloren – ein Debakel für die SPD, die den Wahlkreis seit Bestehen der Bundesrepublik immer „geholt“ hatte. Marcus Held zog damals gerade so ins Parlament ein – auf der Landesliste stand er auf Platz 10.
Für 2017 strebt Marcus Held den sicheren vierten Platz auf der Landesliste an. Den wollen allerdings auch die Mainzer Sozialdemokraten für ihren Kandidaten Carsten Kühl. Auf der Regionalkonferenz im November 2016 kommt es zur Kampfabstimmung – die Marcus Held gewinnt, der sich damit den rheinhessischen Spitzenplatz sichert.
Kühl nimmt die Niederlage sportlich, sagt aber auch: „Marcus Held und ich – wir haben schon ein unterschiedliches Verständnis von Politik. Insoweit hatten die Delegierten eine echte Alternative. Er berief sich zudem auf die Seniorität, die Tatsache, dass er schon 2013 in den Bundestag kam. Ich war der Auffassung, dass meine politische Erfahrung, unter anderem als Minister, zählen sollte. An der Stelle war ich wohl naiv, denn ich habe eins unterschätzt: Die Delegierten aus den Parteigliederungen wollen ihren Abgeordneten vorne sehen.“
Heute leitet Kühl das Deutsche Institut für Urbanistik (difu) in Berlin. Mit Politik hat er nichts mehr am Hut.
Klicken Sie auf sein Bild und erfahren Sie, warum Carsten Kühl Helds letztes politisches Opfer war.
Ein paar Monate später, im April 2017, beschließt die Landes-SPD ihre Liste für die Bundestagswahl. Dabei wählen die Delegierten Marcus Held wie geplant auf Platz vier der Landesliste. Held erhält mit 77 Prozent das schlechteste Ergebnis der ersten 15 Listenplätze, zum Vergleich: Carsten Kühl (Platz 10) kommt auf 94 Prozent. Freilich sind zu diesem Zeitpunkt auch schon die Untreue- und Bestechungsvorwürfe gegen Held bekannt, er selbst spricht von „mächtig Gegenwind“, gibt sich aber optimistisch: „Damit kann ich gut umgehen, denn ich habe nichts zu verbergen und habe mir nichts vorzuwerfen.“
Doch der „Gegenwind“ nimmt an Stärke zu, die Hinweise, dass an den Vorwürfen was dran sein könnte, verdichten sich. Zwar stehen die Genossen zu ihrem Kandidaten, doch offenbar vernimmt man in Berlin das Beben in und um Oppenheim.
So lässt sich Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) mal lieber nicht von Marcus Held zum Oppenheimer Weinritter schlagen und sagt den Termin, der in die schönste Wahlkampfzeit gefallen wäre, kurzerhand ab.
Bei der Bundestagswahl am 22. September 2017 unterliegt Marcus Held erwartungsgemäß seinem CDU-Konkurrenten, Held kommt gerade einmal auf 26,7 Prozent der Stimmen.
Parteifreund Klaus Penzer, Bürgermeister der VG Rhein-Selz, spricht von einer „Hetzjagd“, die Held „massiv geschadet“ habe, und auch Held selbst geriert sich als Opfer, bezeichnet das Wahlergebnis als „Tiefpunkt“ und als Resultat dessen, „was man versucht hat, gegen mich aufzubauen“. Bundestagsabgeordneter bleibt er trotzdem – dank seines sicheren Platzes auf der Landesliste.
Kapitel 6: Der Rechnungshofbericht
Kapitel 6: Der Rechnungshofbericht
Mitte November 2017 wird die Diskussion um Marcus Held noch eine Spur lauter und schriller, als in Oppenheim Details aus dem Landesrechnungshofbericht durchsickern. Held probiert es erneut mit der Vorwärtsverteidigung: Er präsentiert Journalisten das Papier noch vor der Veröffentlichung – seine Erläuterungen und Rechtfertigungen liefert er naturgemäß gleich mit.
Diese Taktik verfängt allerdings diesmal noch weniger als beim anonymen Dossier im Februar. Denn die 112 Seiten der Rechnungsprüfer aus Speyer sind ein bunter Reigen der Verschwendungssucht, die im hochverschuldeten Oppenheim herrschte. Fassungslos nehmen die Bürger nicht nur schrullige Details zur Kenntnis wie völlig überteuerte Ehrenringe für ausgeschiedene Stadträte oder die vielen Weinflaschen, die zu Repräsentationszwecken verschenkt wurden. Nein, sie lesen auch zum ersten Mal im Detail, welche Summen für Maklercourtagen im Baugebiet Krämereck Süd bewegt wurden – ohne Not und oftmals ohne Ratsbeschluss, wie der Rechnungshof anmahnt. Das Wort „rechtswidrig“ zieht sich wie ein roter Faden durch seinen Sonderbericht, an mehreren Punkten wird die Stadt aufgefordert, Held auf Schadenersatz zu verklagen.
”Er hätte als reuiger Sünder auftreten können. Wenn er gesagt hätte „Ja, ich habe Fehler gemacht – in dem festen Glauben, meiner Stadt Gutes zu tun“, wäre ihm wohl eher verziehen worden.
Jürgen Falter, Parteienforscher, damals wohnhaft in Oppenheim, in einem Interview zur „Causa Held“ am 26. September 2017
Wie massiv die Stimmung umgeschlagen ist, lässt sich an den Reaktionen ablesen. Während der Jurist Held sich weiter vor allem mit Verweis auf Paragrafen verteidigt, dem Rechnungshof das Recht abspricht, in die kommunale Selbstverwaltung reinzuregieren, und alle Entscheidungen für sachlich begründet hält, nimmt ihm die steigende Zahl seiner Widersacher zunehmend krumm, dass Held keinerlei Anzeichen von Demut zeigt oder gar eingesteht, im Umgang mit der Affäre Fehler gemacht zu haben. Die Gräben in der Stadt werden dadurch immer tiefer.
Kicken Sie auf ihre Bilder und erfahren Sie mehr über Helds Ziehvater und einen, der sich als erster aus der Deckung traut.
Am 8. Dezember 2017 schreibt die lokale Ausgabe der VRM-Gruppe in einem Kommentar: „Dem Stadtoberhaupt ist es in den vergangenen Monaten nicht gelungen, den Bürgern sein Handeln plausibel zu erklären. […] Es geht hier nicht um Paragrafen, es geht um Politik. Das hat zu tun mit Vorbildfunktion und Glaubwürdigkeit. […] Marcus Held hat einmal gesagt, selbst wenn er Fehler gemacht habe, so habe er stets nur das Wohl der Stadt im Sinn gehabt. Gemessen an diesen Worten wäre der größte Dienst, den er Oppenheim momentan erweisen kann, sein Bürgermeisteramt niederzulegen.“
Vier Tage später legt der Rechnungshofbericht seinen überarbeiteten Abschlussbericht vor, in dem er nicht nur an seinen Vorwürfen festhält, sondern diese zum Teil ergänzt und verschärft. Zum Jahreswechsel 2017/2018 ist die Bühne bereitet für den letzten Akt.
Kapitel 7: Proteste in Oppenheim
Kapitel 7: Proteste in Oppenheim
Klicken Sie und erfahren Sie, warum Oppenheims Kinder einst für ihren Bürgermeister sangen.
Im Dezember 2017 haben sie noch ertragen, dass Kita-Kinder auf dem Weihnachtsmarkt „nur“ für ihren Bürgermeister sangen, oder dass Marcus Held, ganz guter Christ, staatstragend eine Weihnachtsvideobotschaft aus der Katharinenkirche sendete. Aber Anfang Januar 2018 ist für viele Oppenheimer das Maß voll. Und so beginnt ein in der Bundesrepublik Deutschland wohl einmaliger Vorgang: Woche für Woche gehen mehr Menschen auf die Straße, um gegen ihren eigenen Bürgermeister zu demonstrieren. Bald werden die „Montagsdemos“ zum festen Bestandteil des Stadtkalenders.
Marcus Held nutzt die Bühne des städtischen Neujahrsempfang, um zu beteuern: Er habe stets das Wohl der Stadt im Blick gehabt, Hass und Verleumdung seien ihm fremd. Er bedankt sich für Zuspruch und Aufmunterung, und ein Großteil der 400 Zuschauer klatscht ihm demonstrativ Beifall. Darunter sind viele Genossen, auch Ex-Landrat Claus Schick. Der kritisiert nicht etwa Marcus Held, sondern den Landesrechnungshof. Dann will er mit der Presse abrechnen, die Marcus Held so übel mitgespielt habe: Die „Heimatzeitung“ (gemeint ist die Zeitung der VRM) schüre eine „Pogromstimmung“, versteigt sich Schick in Nazivergleiche. Die Reaktion im Saal: lautstarker Beifall, zum Teil zustimmendes Gejohle.
Klicken Sie und erfahren Sie, warum es in Oppenheim plötzlich zwei Neujahrsempfänge gab.
Erstmals versammeln sich am Abend des 8. Januar rund 80 Demonstranten vorm Oppenheimer Rathaus, eine Woche später sind es schon 250 Männer, Frauen und Kinder, die auf dem Marktplatz Helds Rücktritt fordern. Zu den Kundgebungen Nummer 3 und 4 kommen jeweils 300 Menschen. Der Mann hinter den Demos ist Axel Dahlem, Winzer und Familienvater, bislang politisch nicht aktiv. Doch jetzt habe er nicht mehr schweigen können. Helds „Politik des Täuschens“ müsse und werde ein Ende haben.
Klicken Sie und erfahren Sie, wie ein Held-Video aus der Katharinenkirche für Empörung sorgt.
So wie Axel Dahlem sehen es viele Oppenheimer. Unter den Demonstranten sind auch Kommunalpolitiker, größtenteils sind es aber die ganz normalen Bürger. Der 79-Jährige, der noch nie zuvor an einer Demo teilgenommen hatte, den es aber jetzt auf die Straße treibt. Oder der 15-Jährige, der ein Bettlaken beschriftet hat: „Du bist nicht länger unser Held, gib zurück das Oppenheimer Geld!“
”Die Politik des Täuschens, des Bevorzugens einzelner, des Spaltens, des Lugs und Trugs ist am Ende.
Axel Dahlem, Organisator der Demos
Die siebte „Montagsdemo“ gegen Held findet am 26. Februar statt. Wie ein Lauffeuer verbreitet sich auf dem wieder rappelvollen Marktplatz die Kunde von einem lukrativen Immobiliendeals Helds. Der war nur wenige Stunden zuvor aufgeflogen. Zwei Tage später tritt Marcus Held als Stadtbürgermeister zurück.
Kapitel 8: Das Ende
Kapitel 8: Das Ende
Am 27. Februar 2018 macht die Allgemeine Zeitung, die zur VRM gehört, einen für den Oppenheimer Stadtbürgermeister ebenso lukrativen wie brisanten Immobiliendeal öffentlich. Die Redaktion deckt auf, dass Marcus Held als Privatperson eine Immobilie für 747.000 Euro an das Evangelische Diakoniewerk Zoar verkauft hat – erworben hatte er sie für nicht einmal die Hälfte des Preises.
Dabei geht es um ein Gebäue und ein Grundstück im Oppenheimer Gewerbegebiet Kette-Saar. Als Held es kaufte, wusste er schon lange von den Plänen des kirchlichen Trägers, der ein geeignetes Objekt zur Errichtung einer Behinderten-Wohngruppe suchte. Erste Gespräche habe es bereits 2015 gegeben, bestätigte der damalige Zoar-Vorstandssprecher.
Recherchen im Grundbuchamt brachten es dann ans Licht: Markus Held kaufte die Immobilie für 367.000 Euro, am 15. Dezember 2015 war der Notartermin. Ein knappes Dreivierteljahr später ging dann der Deal mit Zoar über die Bühne – am 24. August 2016 war der Termin beim Notar.
Was zwischen den beiden Notarterminen im Dezember 2015 und im August 2016 geschah, ist durchaus bedeutsam – denn wenn Held den Kauf und den Verkauf auch als Privatperson tätigte, nutzte er dabei doch seine Rolle als kommunalpolitische Größe. Als Marcus Held das Grundstück und das Gebäude für einen Schnäppchenpreis erwarb, befand es sich noch in einem Gewerbegebiet. Im Sommer 2016 gab es jedoch einen Stadtratsbeschluss, der entscheidenden Einfluss auf Grundstückswerte und Quadratmeterpreise hatte: Auf Vorschlag der Verwaltung wurde das ehemalige Gewerbegebiet „Kette-Saar“ in ein Mischgebiet umgewandelt: Wohnbebauung und Wohnnutzung waren somit fortan möglich.
Bei den entscheidenden Ratssitzungen war der Stadtbürgermeister anwesend; bei den Tagesordnungspunkten, bei denen es um Kette-Saar ging, gab er allerdings den Vorsitz ab. Aus den Ratsprotokollen geht hervor, dass Held wegen „Eigeninteresses“ nicht an den Beratungen teilgenommen habe, oder dass er sich für „befangen“ erklärt habe. Warum, darüber geben die Protokolle keine Auskunft. Ein Ratsmitglied und ein Beobachter erinnern sich später aber: Jeder sei ganz selbstverständlich davon ausgegangen, dass Held als Vorsitzender der Gemeinnützigen Wohnungsbaugenossenschaft (GWG) nicht an den Abstimmungen teilgenommen habe. Stets sei suggeriert worden, dass die GWG das Gebäude gekauft habe. Dass Held selbst es war – das wusste offenbar niemand.
Umso größer ist die Entrüstung, als das Grundstücksgeschäft öffentlich wird. Der Druck wird so groß, dass Held, der schon seit Wochen krankgeschrieben ist, nur einen Tag später, am 28. Februar 2018, seinen Rücktritt als Stadtbürgermeister erklärt. Die politischen Weggefährten gehen jetzt in Scharen auf Distanz zu dem Oppenheimer Stadtbürgermeister. Auch führende Genossen im Land und in Mainz sind stinksauer – jetzt steht der Vorwurf der persönlichen Bereicherung im Raum. Es wird einsam um Marcus Held.
Generalsekretär Daniel Stich ist einer von denen, die aussprechen, was wohl viele denken: „Es liegt in seiner Verantwortung, weiteren politischen Schaden abzuwenden. Auch die Frage, ob in Anbetracht der Situation das Ausüben seiner Ämter weiter möglich ist, muss er sich stellen.“
Mit dieser Erklärung trat Held zurück.
”Ich fühle mich getäuscht, damit hat er das letzte Fünkchen Vertrauen verspielt.
Jörg SteinheimerSPD Oppenheim
”Wer ein öffentliches Amt ausübt, um sich zu bereichern, das ist ein No-Go. Das geht überhaupt nicht.
Hendrik HeringLandtagspräsident (SPD)
”Es hat eine andere Qualität, wenn nun der Vorwurf der persönlichen Bereicherung da ist. Ich bin entsetzt und enttäuscht.
Salvatore BarbaroDamaliger Vorsitzender der SPD Mainz-Bingen
”Die wirtschaftlichen Vorteile, die sich Marcus Held durch internen Wissensvorsprung verschafft hat, hätte er aufgrund seines Amtes nicht für sich ausnutzen dürfen.
Stephanie KloosDamalige SPD-Fraktionsvorsitzende Oppenheim
”Ich war schockiert, das ist für mich unfassbar. Es geht nicht, dass ein Bürgermeister ein Grundstück erwirbt, dort das Gewerbegebiet in ein Mischgebiet umwandeln lässt und das Grundstück dann zum doppelten Preis weiterverkauft.
Thomas GüntherDamaliger CDU-Stadtbürgermeister Nierstein
Kapitel 9: Helds Erbe und tiefe Gräben
Kapitel 9: Helds Erbe und tiefe Gräben
Oppenheim ist eine krisengebeutelte, eine gespaltene Stadt, als Marcus Held nach seinem Rücktritt abtaucht. Tiefe Gräben gibt es nicht nur zwischen den politischen Gruppierungen. Sie ziehen ich auch durch die Oppenheimer SPD, die über Jahre nur auf diese eine Figur ausgerichtet war – ihre Lichtgestalt, ihr Marcus Held. Jetzt muss sich der einst so stolze Ortsverein, dem die Mitglieder in Scharen davonlaufen, neu finden.
Ganz Oppenheim muss sich neu sortieren!
Denn das Klima ist noch immer geprägt von Missbilligung und Misstrauen. Die alten Seilschaften sind so leicht nicht zu zerschlagen. Im Rathaus sitzt erst einmal ein treuer „Heldianer“ als Interims-Bürgermeister: Helmut Krethe, einst CDU-Mitglied, gilt als unerschütterlicher Weggefährte Marcus Helds. Auch andere Schlüsselpositionen in der Stadt sind noch lange mit Held-Getreuen besetzt.
Und bald wird klar, dass Oppenheim nicht zur Ruhe kommen wird, solange die Vorwürfe gegen Held nicht juristisch vollständig aufgearbeitet sind – und solange Held sein Bundestagsmandat nicht abgibt. Dass Marcus Held, der sich in seinem Wahlkreis kein einziges Mal mehr öffentlich blicken lässt, als Abgeordneter Monat für Monat eine Diät im fünfstelligen Bereich kassiert – das treibt die Menschen um, nicht nur in Oppenheim.
Doch mit zunehmender Dauer wird klarer, dass mit Krethe kein Neuanfang möglich ist. Er hat die CDU einst ohne Not in das unheilvolle Bündnis mit Held gejagt, weil ihm nun die Unterstützung fehlt, tritt er bei der Bürgermeisterwahl am 3. Juni 2018 gar nicht erst an und machte den Weg für Walter Jertz frei. Doch am selben Tag wird bekannt, dass Krethe in den Vorstand der Oppenheimer Wohnungsgenossenschaft GWG wechselt, die ebenfalls tief in den Held-Schlamassel verstrickt ist. In der Stadt entsteht der Eindruck, Krethe wolle Held (von dem er sich nie distanziert hatte) beim Abwickeln möglicherweise belastender Altlasten helfen.
Krethe tut wenig, diesen Eindruck zu widerlegen, die GWG kommt unter ihm nicht zu Ruhe. Die Konsequenz: Als er bei der Bürgermeisterwahl ein Jahr später doch wieder antritt, bekommt Krethe im Duell mit Jertz nicht einmal 20 Prozent der Stimmen. Aus der GWG ist Krethe wieder raus, aus der CDU schon lange. Mittlerweile sitzt er nur noch für seine selbst gegründete Bürgerliste Oppenheim (BLO) im Stadtrat.
Klicken Sie auf sein Bild und erfahren Sie mehr über den ebenfalls nicht sonderlich ruhmreichen Nachfolger Held.
Die Zelte bricht Held komplett ab. Er verkauft sein Haus in der Oppenheimer Altstadt, in einem Immobilienportal wird es für 1,4 Millionen Euro angeboten. Es heißt, er sei mit seiner Familie nach Berlin gezogen, und tatsächlich – irgendwann beginnt Held, sich als eine Art Berliner Abgeordneter zu präsentieren. Auf Facebook zeigt er sich in Interviews, die er mit lokalen Sendern führt, postet Fotos mit politischen B-Promis, sendet Weihnachtsgrüße, jetzt eben aus einer Berliner Kirche.
Und daheim, im schönen Oppenheim? Schafft es die SPD, sich doch nicht zu zerfleischen – auch wenn es zunächst danach aussieht. Am Anfang stehen sich Held-Getreue, Abgewendete (böse Zungen sprechen von Wendehälsen) und die, die Held noch nie mochten, fast unversöhnlich gegenüber. Im Stadtrat gibt es zwei SPD-Fraktionen: „Alt“, das sind die Heldianer, und „Neu“, das sind die, die jetzt mit Held nichts mehr am Hut haben. Auch wenn die Sozialdemokraten recht schnell mit Willi Keitel einen neuen Vorsitzenden wählen – es dauert lange, bis der Ortsverein zur Ruhe kommt und seine Altlasten los wird. Fortan übt sich die SPD, die einst den Rat und die Stadt dominierte, in neuer Bescheidenheit.
Denn schließlich hat Oppenheim einen neuen Hoffnungsträger. Generalleutnant a.D. Walter Jertz, politisch unbelastet, gelingt es, Menschen nahezu aller politischen Färbungen hinter sich zu versammeln. Als Parteiloser gewinnt er das Vertrauen der Oppenheimer und wird am 3. Juni 2018 zum neuen Bürgermeister von Oppenheim gewählt.
”Als Grüne haben wir auf verschiedenen politischen Ebenen auf Aufklärung gedrängt und haben frühzeitig den Rücktritt von Marcus Held gefordert. Für uns war deutlich, dass Marcus Held nicht zum Wohle der Stadt gehandelt hat. Neben den politischen Konsequenzen ist nun die rechtliche Aufarbeitung vor Gericht wichtig.
Pia SchellhammerDie GRÜNEN
”„Im Fall Held bleiben aus unserer Sicht weiterhin viele Fragen offen. So hat die SPD unter Roger Lewentz bis heute nicht die Spenden unter 10.000 Euro offengelegt. Was hat die SPD zu verbergen?“
Gerd SchreinerCDU Landes-Generalsekretär RLP
”„Zurückgelassen hat er Anfang März 2018 eine Stadt mit hohen Schulden, Verunsicherung und gesellschaftlichen Scherben. Aber sein Rückzug hat uns Luft und Freiraum gegeben, um Oppenheim neu auszurichten und zu entwickeln.“
Stephanie Steichele-GuntrumFDP-Politikerin
”„Es gab ein Aufatmen in Oppenheim. Die Bürgerinnen und Bürger meiner Heimatstadt reden wieder miteinander statt übereinander. Ich war und bin noch immer bereit, dafür meinen persönlichen Beitrag zu leisten.“
Walter JertzHelds Nachfolger als Stadtbürgermeister
Epilog: Das lange Warten
Epilog: Das lange Warten
Am 4. Mai soll der Prozess gegen Marcus Held nun starten. Auf Antrag der Verteidigung wurde der Beginn pandemiebedingt bereits zweimal verschoben. Im Mai wird es dann etwas mehr als drei Jahre her sein, dass der SPD-Politiker vom Stadtbürgermeisteramt in Oppenheim zurücktrat. Viel ist seitdem passiert, nur eines hat sich nicht geändert: Held sitzt immer noch im Bundestag, trotz zahlreicher Rücktrittsaufforderungen erfüllt er seine Amtszeit, kassiert Diäten, Aufwandsentschädigung und Pensionsansprüche. Man geht davon aus, dass er sich nach Ablauf seiner Mandatszeit im Herbst in die Privatwirtschaft zurückzieht.
Auf Facebook ist Held, seit er im Sommer 2019 aus seiner Krankschreibungspause zurückkehrte, aktiv wie eh und je, normales Politikgeschäft eben. In Oppenheim ward er nicht mehr gesehen, seine Wahlkreisbüros in Rheinhessen sind aufgelöst.
Besonders kritisch sehen viele, dass sich die juristische Aufbereitung des Falls quälend lang hinzieht. Erst im Juli 2019, nach zwei Jahren Ermittlungen, erhob die Staatsanwaltschaft Mainz Anklage. Die Zulassung durch das Landgericht Mainz zog sich fast ein weiteres Jahr hin. Eine Reihe von Anklagepunkten wurde fallen gelassen, was Helds Anwälte durchaus zuversichtlich in den Prozess gehen lässt. Der sollte eigentlich zunächst am 1. Dezember 2020 und dann am 2. März 2021 starten, doch dann wurde er wegen Corona-Fällen zweimal vertagt. In Oppenheim hat das alles nicht zur Beruhigung beigetragen.
Was nun folgt ab dem 4. Mai? Im Kern wird es vor allem noch um die Frage der Maklercourtagen bei den Grundstücksankäufen im Krämereck Süd gehen, mit Held (heute 43 Jahre) sind auch zwei Mitarbeiter des Maklerbüros (81 und 83 Jahre) angeklagt. Neben den 205.000 Euro wohl zu Unrecht gezahlter Courtage soll Held laut Anklageschrift seine Stadt auch noch um 15.000 Euro geprellt haben, als er ein Grundstück unter Mindestwert verkaufte.
Spannend wird vor allem, ob das Thema Parteispenden noch einmal richtig hochkocht.
Das Gericht sieht hier dem Vernehmen nach keinen Ansatzpunkt, die Staatsanwaltschaft sagt dagegen immer noch, Held habe von den Maklern 24.600 Euro erhalten. Weil dieses Geld in den Rechenschaftsberichten der SPD Oppenheim für 2014 bis 2016 nicht hätte auftauchen dürfen, sieht die Staatsanwaltschaft einen Vermögensnachteil für die Bundes-SPD in Höhe von 73.800 Euro. Verhandelt werden vor der 1. Großen Strafkammer die Straftatbestände Untreue, Betrug, Bestechlichkeit und Verstöße gegen das Parteiengesetz – das betrifft Held. Die Makler müssen sich wegen Betrugs und Bestechung verantworten.
Justiz-Insider vermuten zwar, das Hauptverfahren könne sogar kürzer dauern, als viele befürchten, weil die meisten Details schon recherchiert sind. Dennoch sind bereits elf Verhandlungstage bis Juli angesetzt, der Gang durch weitere Instanzen ist ebenso möglich wie auf den Strafprozess folgende Zivilprozesse. Helds Gegner fürchten, er kommt mit einer milden Strafe oder einem Freispruch davon.
In jedem Fall wird eines passieren, was drei Jahre lang nicht geschah: Marcus Held wird sich selbst erklären. Möglicherweise kommt da noch manch spannendes Detail ans Licht. Für überraschende Wendungen ist die Causa Held ja schon immer gut gewesen.
Der Fall Held im Podcast: In der BabbelBox rollt Reporter Ulrich Gerecke die Held-Geschichte nochmal auf. Meike Hickmann und Frederik Voss analysieren anschließend die schwierige Kunsts des Rücktritts im Politikgeschäft.
Mitwirkende:
Autoren: Ulrich Gerecke, Kirsten Strasser
Layout & Illustrationen & Animationen: Florian Muskat
Fotos: picture alliance/dpa; AdobeStock – Boris Zerwann/stefan welz; Stadt Oppenheim; Stadt Nierstein; VG Rhein-Selz; Harald Kaster; Lukas Görlach; Michael Reitzel (privat); Dr. Carsten Kühl (privat); DBT/Stella von Saldern; hbz/Michael Bahr/Jörg Henkel/Stefan F. Sämmer/Sell/Schäfer; photoagenten/Axel Schmitz; Carsten Selak; Andreas Stumpf; Christine Dirigo; Thomas Ehlke; Heike Rost; Thomas Schmidt; Damaris Krethe; Christopher Mühleck; Meidinger; Menke; Ochsner; Rudolf Uhrig; CDU; SPD; Grüne-Landtagsfraktion; FM; Strasser; Heinz Schäffer; Felix Krömker; Florian Muskat; Screenshot: facebook.com/mdbmarcus.held; Archiv VRM